„50 Jahre Eintracht“ ist der Titel einer kleinen, silberfarbenen Broschüre, die unser Verein 1949 verfasste. Auf über 80 Seiten wird die Geschichte der Eintracht von den Anfängen bis zu jenem Jahr 1949 erzählt.
Auf Seite 14 gedenkt man den Verstorbenen des Vereins, und zu den „unvergesslichen Namen“ gehört auch Walter Neumann. Anlässlich des Jubiläums werden auch zahlreiche Mitglieder mit Ehrennadeln ausgezeichnet. Die Eintracht sendet auch eine der goldenen Ehrennadeln an Charlotte Newman in Blackburn. Einige Wochen später bedankt sich Charlotte schriftlich für die Ehre, und beim Lesen des Briefs bekommt man heute noch eine Gänsehaut:
„Blackburn, 20. 01. 1950
Ich bin wirklich ganz gerührt über die große Freundlichkeit, daß die Eintracht mir im Andenken an meinen Mann die goldene Ehrennadel geschickt hat. Ich wünschte nur, er hätte das selbst noch erleben können. So danke ich Ihnen und den maßgeblichen Herren. Mögen die nächsten 50 Jahre der Eintracht denselben Aufstieg bringen, der sie in der Vergangenheit an die Spitze deutscher Sportvereine brachte. Als ich im September in Frankfurt a.M. war und nach so vielen schweren Jahren zum ersten Male die Eintracht wieder spielen sah, als mir die Herren Stubb und Kirchheim im Namen des Vorstandes einen Blumenstrauß überreichten, war ich derart überwältigt von Gefühlen, daß es mir unmöglich war, mich seinerzeit persönlich zu bedanken. Ich hole dieses hiermit nach. Wir alle haben in den letzten 17 Jahren Schwerstes erleben müssen. Beim Lesen Ihrer Festschrift kamen so viele frohe und vergnügte Erinnerungen zurück, daß die schlimmsten Jahre momentan unwirklich erscheinen. Möge der Sport wie in der Vergangenheit völkerversöhnend wirken. Hier in England sind wir getreue Anhänger der Blackburn-Rovers geworden, die den alten Eintrachtlern nicht unbekannt sind. Nochmals meinen aufrichtigsten Dank. Ich versehe, in welchem Sinn mir die Nadel geschickt wurde. Ihre Charlotte Newman.“
Charlotte Newman,die „getreue Anhängerin der Blackburn-Rovers“, ist eigentlich Eintrachtlerin durch und durch. Denn bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten wohnte die Familie in Frankfurt, und Walter, ihr Mann, war einer der ganz großen Förderer unserer Eintracht.
Walter Neumann wurde am 13. Dezember 1892 in Friedberg geboren. Von 1908 bis 1912 spielte der begeisterte Fußballer bei Phoenix Karlsruhe in der Reservemannschaft, im ersten Weltkrieg zog er sich eine schwere Augenverletzung zu, die das Ende seiner fußballerischen Karriere bedeutete.
In Frankfurt ist Walter Neumann Mitinhaber der Schuhfabrik J. & C. A. Schneider, stadtbekannt unter dem Namen „Schlappeschneider“. Genaugenommen sind der „Schlappenschneider“ zwei Unternehmen. J. & C. A. Schneider betreiben in der Mainzer Landstraße 281 – 290 die Fabrikationen von Sommerschuhen, Haus-, Turn- und Sportschuhen und die Anfertigung von Herrengamaschen. Adler & Neumann, eine Spezialfabrik für Kamelhaarschuhe, ist in der Mainzer Landstraße 251 ansässig. Inhaber der Firma Schneider sind die Brüder Fritz und Lothar Adler, ihr Cousin Walter Neumann ist stiller Teilhaber der Firma. Die Firma Adler & Neumann wird von allen dreien geleitet. Die Superlative über die Firma Schneider schwanken zwischen „größte Schuhfirma des Kontinents“ und „Größte Schuhfirma der Welt“, pro Tag werden bis zu 75.000 paar Schuhe produziert. Mehr als 3.000 Angestellte, im Volksmund „ICASianer“ genannt, verdienen in den Fabrikationsanlagen ihr Geld. „Schlappeschneider“-Schuhe werden nach Großbritannien, Belgien, Dänemark, Norwegen, Schweden und in die Niederlande exportiert.
Walter Neumann, der „Schlappe-Stinnes“, ist großer Eintracht-Anhänger, er unterstützt den Verein mit viel Engagement. In der Festschrift „50 Jahre Eintracht“ von 1949 wird rückblickend berichtet: „Der Mann, der die Eintracht führte, ohne auf dem Stuhl des Präsidenten zu sitzen, hieß Walter Neumann. Er besaß eine unbändige Lebenslust, aber sobald es um den Verein ging, wurde es bei ihm ernst.“ Neben der finanziellen Unterstützung des Vereins bietet der „Schlappeschneider“ Spielern der Eintracht sichere Arbeitsplätze mit flexiblen Arbeitszeiten an und hat damit maßgeblichen Anteil am wachsenden sportlichen Erfolg des Vereins Ende der 1920er Jahre. Offiziell unterliegen Fußballer dem Amateurstatus und erhalten von den Vereinen kein Geld. Verstöße gegen das Amateurstatut sind zwar ein offenes Geheimnis, werden aber bei Bekanntgabe vom Verband hart bestraft. So gehen die Vereine dazu über, talentierte Fußballer mit dem Angebot von Arbeitsplätzen zu locken. Dass die Eintrachtler, die beim Schlappeschneider arbeiteten, keinen besonders anstrengend Job hatte, bestätigte einst die Ehefrau von Nationalspieler Franz Schütz, der mit der Eintracht 1932 im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft stand: „Der Franz war auch ein ICASianer, aber der ist zur Arbeit gekommen, wann er wollte. Die meiste Zeit war sein Schreibtisch leer.“
Gemeinsam mit Fritz & Lothar Adler und dem Eintracht-Schatzmeister Hugo Reiss, für den die Eintracht bereits 2011 Stolpersteine verlegt hat, sorgt Walter Neumann dafür, dass talentierte Fußballer bei der Eintracht unterkommen – ihr Geld verdienen sie beim Schlappeschneider. Von der Mannschaft, die 1932 das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft gegen die Münchner Bayern mit 0:2 verliert, können wir mittlerweile 10 ICASianer nachweisen – quasi eine Firmenmannschaft!
Walter Neumann sorgt nicht nur für Jobs, er unterstützt den Verein und auch die Spieler auch finanziell. Zum Gewinn der Main-Meisterschaft 1927 erhalten die Spieler von ihm beispielsweise eine Goldene Taschenuhr mit Gravur. Zur großen 30-Jahres Feier 1929 organisiert er mit Max Neumann einen bekannten Opernsänger, der bei der Feier auftritt. Das fällt sehr leicht, denn Max ist sein Cousin. Walter begleitet das Team, er organisiert Feiern – mit dabei sind immer seine Frau Charlotte und die Kinder Hans und Manon. Charlotte dichtet hin und wieder sogar für ihre Eintracht. Per Telegramm gratulierte sie im Dezember 1932:
„Hurra gewonnen gratuliere von Herzen
Hab vom Daumendrücken direkte Schmerzen
Jetzt weiter auf den Ersten voran
Es lebe die Eintracht – Lotte Neumann“
Während Walter und Charlotte in der Loge des Riederwald-Stadions die Spiele der Eintracht beobachten, spielt Tochter Manon lieber hinter der Tribüne mit ihrer Freundin Hilde, oder die beiden pflücken zusammen Blumen. Hilde Kremer, die bis heute in Frankfurt wohnt, erinnerte sich einmal in einem Interview: „Wir waren sechs oder sieben Jahre alt und gut befreundet. Die Manon habe ich immer bewundert. Die Neumanns waren sehr wohlhabend, und mein Vater war Beamter – so schick wie die Manon war ich nie angezogen. Das habe ich mir immer gewünscht, so täte ich auch gerne aussehen.“ Hilde Kremer erinnert sich auch, dass Walter Neumann viel für die bedürftige Bevölkerung Frankfurts tat. „Mein Vater war ja beim Wohlfahrtsamt der Stadt Frankfurt in der Heiligkreuzgasse, wo heute Johnny Klinke sein Lokal Tigerpalast hat. Da kamen die Leute und haben gebettelt, ob man nicht einen Zuschuss kriegen kann. Und da hat der Neumann vor Weihnachten immer einen ganzen Lieferwagen voll Hausschuhe geschickt. Mein Vater hat die dann die Leute anprobieren lassen, und die sind glücklich mit den Hausschuhen nach Hause gegangen. Das lief alles über die Eintracht.“
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 endet das tolle Eintracht-Leben für die Neumanns, denn die Familie ist jüdischen Glaubens. Ingeborg Wilcke, die Stieftochter unseres ehemaligen Schatzmeisters Hugo Reiss, erinnerte sich in einem Interview einst an die fröhlichen Abende nach Eintrachtspielen, die plötzlich sehr ernst wurden. „Natürlich wurde da auch über Politik geredet …, da gab es oft hitzige Diskussionen. Walter Neumann machte sich keine Illusionen: `Wir müssen auswandern, es hat keinen Zweck mehr`, resümierte er oft.“ Ingeborg Wilcke erinnert sich, dass die anderen Gäste dann gesagt hätten „Ach bewahr, der Hitler hält sich ein Jahr, dann ist der Spukt vorbei.“
Doch der „Spuk“ ist nach einem Jahr nicht vorbei, und bereits Ende 1933 muss Walter Neumann unter Druck seine Anteile an der Firma „Adler & Neumann“ verkaufen. Am 20. Februar 1934 wird er um 13.40 Uhr von der Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen eines „Devisenvergehens“ verhaftet und ins Gerichtgefängnis verbracht. Zwar wird er bereits einen Tag später wieder entlassen, das Erlebte dürfte aber ein Grund dafür gewesen sein, dass er im Oktober 1935 mit seiner Familie nach Amsterdam auswandert. Für sein festgestelltes Vermögen in Höhe von 136.011 RM muss er Reichsfluchtsteuer in Höhe von 34.003 RM bezahlen. Da die Reichsfluchtsteuerstelle des Finanzamts Frankfurt bei einer Prüfung jedoch feststellt, dass die Teilhaber der Firma Schneider „höhere Gewinne als seither bekannt“ erwirtschafteten, wird gegen Walter Neumann am 15. Mai 1937 ein „Sicherheitsbescheid“ verhängt. Eine Nachforderung in Höhe von 9.595 RM wird am 20. September 1937 beglichen. Zu dieser Zeit ist die Familie Neumann bereits in Sicherheit. Im Juni 1936 waren die Neumanns erneut umgezogen, diesmal nach England. Anfangs wohnen sie in der Regent-Street in London, später ziehen sie nach Blackburn. Mit Wirkung vom 22. März 1938 wird der Familie vom Minister des Innern auf Grund des § 2 des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der Deutschen Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Im Antrag auf die Aberkennung der Reichsangehörigkeit der Familie Neumann schreibt die Gestapo Frankfurt am 19. Oktober 1937 an die Kollegen in Berlin: „Neumann hat durch sein volksschädliches Verhalten bewiesen, dass er nicht wert ist, die deutsche Reichsangehörigkeit zu besitzen.“
In der neuen Heimat Blackburn nennt sich die Familie fortan „Newman“. Walter gründet eine neue Firma namens „Newman`s Slippers Ltd.“ Während des Zweiten Weltkriegs beliefert die Firma hohe Offiziere der US-Armee – so tragen etwa General Eisenhower und General Doolittle Schuhe aus Neumanns Kollektion. „Newman`s Slippers Ltd.“ wird auch international erfolgreich: Bald stammen 40 Prozent der Schuhexporte Großbritanniens aus dessen Produktion. Walter Neumann ist ein prominentes Mitglied der Jüdischen Gemeinde und findet bei den Blackburn Rovers seine neue sportliche Heimat. Ein ähnliches Engagement wie am Riederwald gibt es in Blackburn aber nicht. Sein Sohn Hans, der sich nun „Jack“ nennt, erbt die Fußballbegeisterung nicht. Er interessiert sich für Motorsport und wird erfolgreicher Rennfahrer.
Nach einer schweren Krankheit verstirbt Walter Neumann am 3. September 1948. Am Tag der Beerdigung bleibt „Newman`s Slippers Ltd.“ geschlossen. Trotzdem haben sich viele Angestellte am Werksgelände versammelt, um dem Firmenbesitzer die letzte Ehre zu erweisen. Der feierliche Trauerzug zum Friedhof führt am Firmengelände vorbei. In Blackburner Zeitungen werden Walter Neumann Nachrufe gewidmet, in denen auch sein Engagement für die Eintracht Würdigung findet.
Lotte Neumann besucht ihre alte Heimat im September 1949, vermutlich verfolgt sie das 2:2 gegen den 1. FC Nürnberg am 10. September 1949. Einige Monate später senden die Verantwortlichen der Eintracht die goldene Ehrennadel und die Festschrift nach Blackburn, für die sich Lotte so ergreifend bedankt. Lotte Neumann verstirbt im August 1959 in Blackburn.
Die Familie Newman gibt es aber weiterhin in Blackburn, auch die Firma existiert noch. Geleitet wird sie heute von Michael Newman, einem Enkel von Walter und Charlotte.
Am 23. Juni beteiligt sich das Eintracht-Museum bereits zum sechsten Mal an den Stolpersteinverlegungen in Frankfurt. 2014 erinnern wir an Charlotte und Walter Neumann, die unseren Verein als große Mäzene in den 1920er Jahren unterstützt haben. Die Stolpersteinverlegung, zu der wir Sie recht herzlich einladen, startet um 16.30 Uhr in der Kennedyallee 89. Wir freuen uns, dass mit Michael Newman und seiner Familie erstmals auch Angehörige von Charlotte und Walter vor Ort sein werden. Michael Newman kommt aus seiner Heimat Blackburn extra zur Zeremonie angereist.
Direkt nach der Stolpersteinverlegung laden wir Sie zu einer kleinen Feierstunde in das Eintracht Frankfurt Museum in der Commerzbank-Arena ein. Die Veranstaltung beginnt um 18.00 Uhr und wir freuen uns auf Michael Newman und seine Familie. Außerdem kommt auch Hilde Zimmer, die als Kind mit Manon am Riederwald gespielt hat. Zu Gast sind auch Vertreter des Frankfurter Fanprojekts. Das Fanprojekt hat im Rahmen des Projekts „im gedächtnis bleiben“ an der Errichtung eines Denkmal auf dem Stadiongelände mitgearbeitet. Die beindruckende Skulptur, die an die vielen vergessenen Fußballanhänger erinnert, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden, wird gegen 19.00 Uhr eingeweiht.
Wir würden uns sehr freuen, Sie am 23. Juni um 16.30 Uhr in der Kennedyallee 89 und um 18.00 Uhr dann im Museum begrüßen zu dürfen.
Text und Fotos: Eintracht Frankfurt Museum
„Prädikat wertvoll“, wollte ich als Kind der Nachkriegszeit spontan zu diesem Artikel schreiben. Um dann nachzulesen, dass die Nazis 1933 ‚in einem neuen Vergnügungssteuergesetz die Prädikate „staatspolitisch wertvoll“, „besonders wertvoll“ (nur bei Spielfilmen) und „kulturell wertvoll“‘ eingeführt haben … Jede Sprache hat nur Worte. Und manchmal fehlen sie mir.
auf die idee, das auch dieses auf den mist der nazis gewachsen ist, wäre ich nicht gekommen. ich hätte noch nicht einmal nachgeguckt. danke!
Vielen Dank für diesen Artikel!
Der Dank geht postwendend ans Eintracht Museum :-)