my sign is vital, my hands are cold
(The Killers)
Es gab mal Zeiten, da gehörte die Straße den Straßenkindern. Wer sich draußen rumtrieb, der hatte keine Heimat und im Sommer Dreck an den Füßen. Draußen waren die Sitten rau, man wusste nie, wem man begegnen und was der Tag bringen würde. Man war ungeschützt – aber auch unkontrolliert. Die Gefahren der Großstadt, sie lauerten auf den Straßen ebenso wie die Versuchungen. Die Kleinen drückten sich die Nase an den Schaufenstern platt oder warfen Hundescheiße in die Briefkästen ungeliebter Nachbarn, die Großen lungerten am Kiosk herum – oder demonstrierten. Gegen Vietnam. Gegen Atomkraft. Gegen die Startbahn West. Manchmal auch für etwas; für die Abrüstung beispielsweise. Wir wollen Sonne statt Reagan. Ostern war jede Menge los, die Ostermärsche zogen Unmengen friedensbewegter Menschen an, sie trugen seltsame Gewänder und krude Frisuren und wünschten sich belächelt von den Umstehenden eine friedlichere Welt – da kann man im Grunde nichts gegen sagen. Eine friedlichere Welt ist was schönes – leider nicht ganz so einfach zu bewerkstelligen, vor allem wenn man im Alltag im Gesamtgetriebe Dinge gegen Bezahlung tut, die ihr Scherflein zum Werden des Dasein beitragen. Auch die Kreditvergabe an Bombenbauer schafft Arbeitsplätze; da dürfen wir nicht wählerisch sein, denn die sind knapp bemessen. Aber das ist ein anderes Thema.
Die Straße. Ein Musiker, den ich in jungen Jahren klasse fand und der kürzlich – neben anderen auf den Hund gekommenen – auf den Litfasssäulen der Republik Reklame für eine große Boulevardzeitung machte, sang einst: Ich möcht zurück auf die Straße, möcht wieder singen, nicht schön sondern geil und laut. Denn Gold findet man bekanntlich im Dreck und Straßen sind aus Dreck gebaut. Und die Goldsucher auf der Straße waren in der Gesellschaft nicht wohl gelitten, die Schmuddelkinder, die Straßenköter, die Hippies und Gammler und Demonstranten. Den letzten ganz großen Auftritt erlebt wir Ende der Achtziger, als in der DDR ein Volk auf die Straße ging und trotz der Gefahr von Polizei und Obrigkeit skandierte: Wir sind das Volk. Als sie nur wenig später riefen: Wir sind ein Volk war das Kind in den Brunnen gefallen, in dem es sich fortan wohl fühlte.
Spätestens mit dem Beginn der Überwachung der öffentlichen Plätze wandelte sich das Bild. Hippies und Gammler sind – so es sie überhaupt noch gibt – putzige Fotomotive, genau so wie die Punks mit ihren Hunden, die Halstücher tragen. Manchmal geben sich die Punker so ein bisschen punkig und nehmen sich mit der Musik aus Kassettenrekordern ein bisschen Lebensraum, aber oft sitzen sie nur da, zeigen ihre bunten Haare und sagen brav danke, wenn sie von einem Passanten eine Münze bekommen. Manchmal glaube ich, der Passant denkt sich: Aber nur für den Hund.
Bleiben noch die Skateboarder, die sich immer verstohlen umschauen, um zu beobachten, ob sie jemand auch richtig klasse findet. Und natürlich die Restaurants und Kneipen. Standen früher ein paar Bierbänke auf der Straße, so sind es heute Armeen von schicken Sesseln. Früher genoss man die Sonne. Heute wird Umsatz erzielt.
Ansonsten gehört die Straße mittlerweile seltsamer Weise den Massen. Erst waren es die Technojünger, die auf der Loveparade in Berlin zu den Klängen von Sven Väth oder DJ Dag dem trüben Alltag ein hedonistisch getragenes Lebensgefühl entgegen setzen wollten. Auch hier haben wir es erstaunlicher Weise wieder mit seltsamen Gewändern und kruden Frisuren zu tun, und auch hier reagierte das Volk zunächst skeptisch – bis es selbst mitmachte und sich vom Sog der Musik treiben ließ. Ganz normale Menschen malten sich bunt an und machten merkwürdige Dinge – ein Phänomen, dass wir bislang nur vom Karneval kannten. Und als sich die Loveparade als eine Art Arschgeweih der elektronischen Musik präsentierte, erlebte die Republik ein weiteres Phänomen. Der einstige Assi-Sport Fußball ging schwanger mit dem einst staubigen Straßenvolk – und gebar: ein Sommermärchen. Sensationell, natürlich blieb der Faktor seltsame Gewänder und krude Frisuren gleich, aber sonst war vieles anders. Auf den Fahnen stand nicht mehr Atomkraft nein Danke oder Gegen Alles, sondern Poldi, ich will ein Kind von dir. Und es waren alle gekommen. Sie kauften sich die gleichen Trikots, die gleichen lustigen Hüte und erlebten gemeinschaftlich eine Fußball WM – ohne sich ernsthaft für Fußball zu interessieren. Nebenbei kehrte ein Patriotismus zurück, der sich von der nationalen Dumpfheit der ewig-Gestrigen befreit zeigte, so ein leichter, lockerer Patriotismus ohne Kriegsgerassel – aber mit bunten Fähnchen und Autocorso. Ein Patriotismus, der sich nach einem Sieg gegen Schweden nicht ganz so ernst nimmt – nach einem Sieg gegen die Türkei aber nicht mehr ganz so locker daher kommt; was zugegeben auch am Gegner liegen könnte. Ich selbst habe es ja mit Ländern nicht so. Vorhin war Leipzig noch Ausland und böse, jetzt ist es wir und gut. Das verstehe, wer will.
Wie auch immer, das Volk bevölkerte die Straßen – und sollte sie kaum noch verlassen: EM, WM, Stuttgart 21, Atomkraft, Flashmob, Wahlsiege – man schnappt sich seltsame Hüte und rennt uff die Gass, wie wir Hessen sagen. Irgendwie ist Facebook ja auch sowas wie eine öffentliche Straße. Hauptsache, man ist nicht mehr alleine. Im Ernst, im Moment sind ja so viele gegen Atomkraft, mit denen ich ums Verrecken nicht einer Meinung sein will, dass ich mir ernsthaft überlege für Atomkraft zu sein. Die Straße aber hat ihren Mythos verloren; ein Land nutzt seinen Lebensraum, das ist nun nicht verkehrt auch wenn die Bettler ein wenig in den medialen Hintergrund gedrängt werden. Allerdings erkennt man derzeit auf den ersten Blick nicht mehr ganz genau: Ist jetzt grad WM oder geht’s um den Bahnhof. Egal, mitmachen, Hauptsache die Sonne scheint. Und nur wer ganz genau hinschaut, der entdeckt in den Straßen die Zeichen derer, die versteckt vor den großen Augen ihre Spuren hinterlassen, irgendwo an einem Stromkasten oder einer Eckwand.
Ich jedoch melde jetzt ein Patent auf Public Viewing bei Wahlen an. Die Anhänger einzelner Parteien feiern in umzäunten Arealen unter freiem Himmel jede Hochrechnung wie ein Tor, und wedeln dabei narrisch mit den Fähnchen. Zwischendrin gibt es Livekonzerte und eine Wahl der Miss Wahl. Ich selbst verkaufe neben Currywürstchen zu fairen Preisen nebenbei auch lustige Hüte. Wie wär’s?
Falls jemand die Vorlage des abfotografierten Graffitis nicht kennt; Hier ist es
Man muss die Zeichen an der Wand nur richtig interpretieren können: Wir holen uns unsere Straßen wieder zurück. Und egal, wer heute auf ihnen unterwegs ist, seit frühster Kindheit verzaubert mich die Straße. Und Jahrzenhte später erliege ich immer noch ihrer Magie. Danke, Beve!
Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen,
Fritsch.
Ich versuche ja zunächst – bevor ich mich dem Tenor der Veränderung im Zuge des Zeit anschließe – mir vor Augen zu führen, ob es denn früher wirklich anders war. Jetzt kann ich zu den Straßen meiner traurigen Heimatgemeinde im Taunus nur sagen, dass diese damals wie heute schlichtweg ohne einen Ansatz von Flair ihren Zweck erfüllen. Wie es denn auf den Straßen der großen bösen Stadt war? Da habe ich vom Feeling her einfach mal gar kein Gefühl für.
Die Eventisierung des öffentlichen Lebens fällt uns reiferen Menschen auf. Als junge haben wir Sie am End als unkritisch in unser Weltbild integriert. Auch Startbahn- und Aufrüstungsgegner waren vieleicht mehr durch das Event als durch ihre Überzeugung motiviert – nur waren die für junge Augen alle echt. Immer.
Mein Gott, wenn ich an die von mir bewunderten Punkrocker meiner Heimatgemeidne denke, welche dann aber nach ihrer Halbstarkenperiode dergastalt zügig ins bürgerlichen Lager übergelaufen sind, dass deren Maskerade damals wir heute schon reichlich grotesk erscheint.
Sicher verändert sich die Welt, die Umgebung, die Straße und der einzelne Mensch – also blöderweise man selbst. Ich glaube aber nicht – und das völlig unfundiert – dass sich die Summe der Menschen zusammengeballt im Massenverhalten mehr ändern als die durch eigene Veränderung bedingte Wahrnehmung.
Richtig ist mit Sicherheit, dass die Ostdeutsche Massenbewegung etwas einzigartiges war. Geschichte.
Das Sommermärchen mal wieder ein nach über 50-jähriger Pause durchorganisiertes Massenereignis. Wobei das Volk die Pause wohl dringend nötig hatte.
Den Straßen von Dietzenbach ging es wie den Straßen im Taunus, die dienten zum rumlungern. Flairlos, fürwahr.
Da ist natürlich was dran, an der Veränderung der eigenen Wahrnehmung. Und sicherlich war manch Teilnehmer an Demos gegen die Startbahn oder Vietnam modebewegt, so wie die Punks, die ganz schnell beim Frisör waren, als der Ernst des Lebens ein Liedchen pfiff.
Manchmal ist es nachts auf den Straßen am Besten. Man begegnet dann nicht so vielen Menschen :-)
Dank euch und viele Grüße
Beve
Ja, es ist die Wahrnehmung. Das lustige an dem Wort ist, es hat mindestens zwei Bedeutungen. Die Straße kann ich wahrnehmen im Sinne von hinsehen und erkennen – so wie es nicht jedem vergönnt ist, wenn er das Graffiti sieht. Die Straße kann ich aber auch wahrnehmen im Sinne von machen und ergreifen – so wie es, tendenziell, heute von Eventist_innen gemacht wird und früher von Demonstrant_innen. In diesem Sinne, die Straße ist so wie wir sie wahrnehmen.
Besten Gruß
till
Einwandfrei gesprochen Till. Solange nicht im Gleichschritt marschiert wird, geht’s wohl noch.
Viele Grüße
Beve
Wo finde ich das Graffiti?
ohje, wenn ich das so genau wüsste. es muss in nordend nähe der unteren berger straße gewesen sein – martin luther – oder heide straße, da in dem dreh.
Cam on rat nhieu, Beve! ;)
Ich werde mich dann mal bei Gelegenheit auf die Suche machen. :)
kannst ja mal bescheid sagen, ob du es entdeckt hast. und danke für die tickets :-)