And also the Trees hatten vor Monaten ein Konzert für den 30.10.2024 in Hamburg angekündigt, genauer gesagt in Harburg, Marias Ballroom. Und wenn wir schon einmal Richtung Norden fahren, habe ich mir für den Tag darauf ein Ticket für das Miniatur Wunderland in der Speicherstadt gebucht. Da die Band zudem am 2.11. im Berliner Privatclub konzertiert, kamen noch zwei weitere Tickets dazu. Die Bahnreisen mit der Deutschen Bahn und dem Flixtrain waren ausgesprochen günstig, und da wir in der Nähe von Hamburg bei Silke und Ingo unterkommen konnten und in Berlin bei Susi, stand die Planung bereits im Frühjahr fest. Wir hatten lange genug Zeit für die Vorfreude.

Früh am Morgen rollen wir mit dem ICE Richtung Hamburg. Weiß der Geier, was mich geritten hatte, zwei Plätze ohne Tisch gegen die Fahrtrichtung zu buchen, um nun statt aus dem Fenster auf eine Mittelstrebe zu schauen. Immerhin ist der Zug nicht ausgebucht, sodass wir später auf vernünftigen Plätzen sitzen und durch Deutschland rauschen. Nebulöse Erinnerungen an drei Stopps in Kassel, Göttingen und Hannover, auf den Ohren And also the Trees – inklusive Noise Cancelling. Wir rollen pünktlich im Hamburger Hauptbahnhof ein, verpassen die S-Bahn um Haaresbreite, nehmen die nächste und fahren bis Eidelstedt. Dort steigen wir um nach Burgwedel. Eigentlich müssten wir ja bis Hasloh fahren, aber der dortige Bahnhof ist derzeit geschlossen. Ingo wartet schon mit dem Volvo. Abends wartet dann das Konzert in Harburg auf uns – diesmal sind nur die „Brothers of the Trees“ angekündigt, die beiden Brüder Justin und Simon, die Köpfe der Band. Auf dem Weg dorthin schlägt eine dezimierte Eintracht Mönchengladbach mit 2:1. Am Harburger Bahnhof verlassen wir die Bahn und wandern zur Location. Mit 150 Besuchern ist Marias Ballroom ausverkauft – Justin und Simon beginnen und es wird zunächst gewöhnungsbedürftig, Töne erklingen, Simon schweigt. Doch langsam drehen sich die Töne in Songs und peu à peu stoßen doch noch nach einer Weile die anderen Bandmitglieder hinzu. Es wird ein mitreißender Abend, der mit Ingo und einem Drive-In-Abstecher zu einer Burgerbraterei endet. Dann gleiten wir mit dem Volvo durch die Baustellen der Halloween- Nacht.

Am nächsten Morgen hatte ich in aller Herrgottsfrühe einen Slot für das Miniatur Wunderland gebucht. Silke bringt mich dankenswerter Weise nach Garstedt zur Bahn, einmal muss ich  umsteigen, und schon bin ich am Baumwall. Von dort sind es nur ein paar hundert Meter zu Fuß bis zur Straße mit dem entzückenden Namen Kehrwieder, und genau hier befindet sich der Eingang ins Miniatur Wunderland – in einem der alten Lagerhäuser der Speicherstadt. Noch ist verhältnismäßig wenig los, der Einlass klappt ohne Verzögerung, und ich gönne mir zunächst einen Café samt Croissant im Bistro. Dann beginne ich meinen Rundgang – und ich kann es vorwegnehmen: Erst sieben Stunden später stehe ich wieder auf der Straße, und das auch nur, weil auf mich noch ein weiteres Abenteuer wartet.

Das Wunderland ist wahrlich ein Erlebnis. Die Miniaturwelten beschränken sich beileibe nicht nur auf die Eisenbahnen und die fahrenden Züge – man begibt sich in eine Miniaturwelt und verliert sich in den Fraktalen eines Kaleidoskops. Es sind die Mikrokosmen im Mikrokosmos, die einen zuweilen staunend, zuweilen grinsend verweilen lassen. Nordamerika, Skandinavien, Hamburg, Mitteldeutschland, Knuffingen mit seinem Flughafen, die Schweiz, Österreich, Venedig, Italien, Monaco – unterschiedlichste, in unzähligen Stunden modellierte Wunderwelten im Maßstab 1:87 warten auf deine Blicke. Alle Viertelstunde wird es Nacht, Tausende LEDs illuminieren die Szenerie, und es gibt unfassbar viele Details zu entdecken. Das Ganze ist zudem interaktiv. Ein Knopfdruck, und du musst schauen, was sich bewegt. Im Volksparkstadion gewinnt der HSV permanent gegen St. Pauli 4:3, Otto hat eine eigene Bühne, irgendwo in einem Sonnenblumenfeld vergnügt sich ein Pärchen, anderweitig liegt eine nackte Schäferin im Gras, eine Kuh steht auf dem Flughafenparkplatz, es wird demonstriert, Autos rasen um die Wette, kein Rennen gleicht dem anderen. Schiffe gleiten durch Echtwasser, Winterschnee in Schweden, Antifa in Rom, verliebt in die Details von Venedig, die rostigen Züge, die durch Rio gleiten. Rio und Patagonien sind in einem anderen Gebäude zu besichtigen. Um diese zu verbinden, wurde vor ein paar Jahren eine Brücke zwischen den beiden Häusern über den Fleet gebaut, über die nun die Bahn fährt – und die Besucher von Haus zu Haus gelangen. Irre.

Der Ideenreichtum und die abertausend Details sind überwältigend, handwerklich unfassbar vielschichtig umgesetzt und programmiert. Dabei haben auch rechte Freaks und Narren ihren Schabernack getrieben – und gleichzeitig eine menschen- und umweltfreundliche Grundhaltung offenbart. Das Miniatur Wunderland ist wahrlich eines der schönsten Projekte, die ich je erlebt habe. Toll. Und es wird mich wiedersehen.

Keine Stunde später schippern wir auf Frau Hedis Tanzschiff über die Elbe. Langsam dreht sich der Tag in die Nacht, der DJ legt Musik der 80er auf, der Plattenspieler gummigelagert, der Wellengang macht dem Vinyl nichts aus – und nach ein paar Anlaufschwierigkeiten tanzen alle auf der Barkasse zu Shannon, Voyage, Voyage oder Cyndi Lauper:

She bop, he bop, we bop
I bop, you bop, they bop
Be bop, be bop, a lu bop

Eben hielt der Zug doch noch in Hamburg, und nun geht unsere Reise am folgenden Morgen schon weiter. Obwohl – so schnell schießen die Preußen auch nicht. Der Flixtrain von Berlin nach Hamburg hat zwei Stunden Verspätung. Das wird in der App gar nicht angezeigt und erst dreißig Minuten vor der geplanten Abfahrt vor Ort bekanntgegeben. Also drehen wir noch eine Runde an der Binnenalster und durch St. Georg, bis der verspätete Zug aus Leipzig einrollt und die Passagiere ausspuckt, die sich mit den wartenden Reisenden vermengen. Durch beherztes Eingreifen des Personals werden gröbere Entgleisungen im Keim erstickt. Ohne nennenswerte Zwischenfälle und mit kürzeren Stopps in Uelzen und Stendal landen wir schließlich im Berliner Hauptbahnhof und nehmen die Regionalbahn nach Gesundbrunnen, da der für unser Ziel nähere Bahnhof an der Bornholmer Straße ebenfalls nicht angefahren wird. Gesundbrunnen hat jedoch den Vorteil der Curry Baude, sodass wir nur Minuten nach unserer Ankunft den ersten Fleischspieß verputzen. Dann wandern wir mit unseren Rollköfferchen vom Wedding über die Behmbrücke zum Prenzlauer Berg und werden von Susi und Karla herzlich empfangen. Später stoßen noch Andi und Thomas zu uns, und wir verbringen einen angenehmen Abend in einer Bar in der Oderberger Straße.

Samstagmorgen treiben wir durch Berlin, genauer durch den Mauerpark und Prenzlauer Berg. Kaum ein Viertel hat sich derartig gewandelt. Als ich das erste Mal hier aufschlug, wehte die DDR durch alle Ritzen; heute heißen die Eissorten im Bullerbü für Besserverdienende anbiedernd „Weiße Schoki,“ und das Parken kostet so viel wie früher die Miete für eine 3-Raum-Wohnung. Kreuzberg ist nicht viel besser: Auch hier sind die Mieten explodiert, freie Flächen sind in ganz Berlin zubetoniert, und der Straßenkampf hat sich in die Beziehungen zwischen Radlern, E-Scooter-Nutzern und Fußgängern verlagert. Vom Auto ganz zu schweigen – kurz, mir gefällt Berlin von Jahr zu Jahr weniger und Hamburg immer besser. Die Schlange bei Curry 36 am Mehringdamm ist endlos; Pia und Andi machen sich mit der Bahn auf Richtung Glühlampe, ich laufe, treibe über die Bergmannstraße, versinke in Erinnerungen und wandere über die Admiralbrücke, um mir später in der Skalitzer Straße den heutigen Veranstaltungsort anzuschauen, doch er ist noch geschlossen. Mittlerweile führt die Eintracht gegen Bochum mit 4:0 – und ich lande pünktlich zur zweiten Halbzeit in der Kneipe, welche die Eintracht-Spiele in voller Länge zeigt, in der Glühlampe. Die Stimmung ist ausgelassen – am Ende heißt es 7:2 – ein überragender Nachmittag im Stadion, ausnahmsweise ohne uns.

Am Privatclub treffen wir Thomas und stellen uns ziemlich weit nach vorne; ich kann den Mikrofonständer beinahe berühren. Binnen Kurzem füllt sich der Saal, auch heute ist das Konzert ausverkauft. Diesmal steht die Band vollzählig auf der Bühne: Justin verliert sich in seinem virtuosen Gitarrenspiel, Simon versinkt in den Worten, während der Drummer Paul mächtig schwitzt. Das Konzert wird für die hiesigen Verhältnisse richtig rockig. Am Bass Grant Gordon, an der Klarinette Colin Ozanne. And Also the Trees spielen neben der neuen Platte Mother-of-Pearl Moon auch einige ältere Songs, darunter Shaletown und Dialogue, und der Saal ist begeistert. Mit dem Slow Pulse Boy endet das intensive Konzert nach über 90 Minuten. Susi holt uns ab, und wir trinken in einer Prenzlauer-Berg-Bar noch ein Bier, beziehungsweise eine Cola. Cash only.

Da die geplante Regionalbahn Richtung Bahnhof eine ordentliche Verspätung hat, bringt uns Susi zum Hauptbahnhof und erklärt uns die städtebaulichen Maßnahmen auf dem Weg dorthin, die Veränderung von Hinterhofwerkstätten zu exklusiven Wohnvierteln. Es ist überall das Gleiche – und trifft nicht meinen Nerv. Die Bahn ist pünktlich, Musik von Ist Ist oder Terminal Serious begleitet mich, während wir durch das sonnige Deutschland gleiten.

Monatelang hatten wir uns auf die Reise und die einzelnen Veranstaltungen gefreut; die Tickets und Fahrkarten hingen an der Pinnwand. Jetzt liegen die Abenteuer hinter uns und neue vor uns – solange es geht. Heute spielt die Eintracht gegen Slavia Prag, morgen fliege ich nach Oslo, die große Reise geht weiter und macht keine Pause. Auch wenn ich es mir manchmal wünsche. Ruhe ist nicht – bis zum Schluss. And there were no bounds