Die Eintracht auf Spurensuche rund um die Shoa
2019 rief das Eintracht Museum gemeinsam mit der Fanbetreuung das Projekt „Spurensuche“ ins Leben, welches sich seither intensiv mit der Eintracht in der NS-Zeit und darüber hinaus beschäftigt. Begleitet wurde das Projekt bis zu dessen Tod im Februar 2023 von Helmut „Sonny“ Sonneberg bis zu dessen Tod im Februar 2023, der als Kind Zeuge der brennenden Synagoge am Börneplatz wurde und später in einem der letzten Frankfurter Transporte der Deportation ins Ghetto nach Theresienstadt anheim fiel.
Während der vergangenen Jahre berichtete er als Zeitzeuge ebenso ausführlich wie anrührend über sein Leben, welches ihn nach seiner Rückkehr aus dem Ghetto zur Frankfurter Eintracht geführt hatte. Entsprechend führte die erste Fahrt des Spurensuche-Projektes im Herbst 2019 nach Theresienstadt. In den folgenden Jahren standen zudem Besuche der Konzentrationslager in Buchenwald bei Weimar und Dachau nahe München auf dem Programm. Die nunmehr vierte Reihe der Spurensuche behandelt die ersten Jahre der Nachkriegszeit – die Abschlussreise sollte uns diesmal nach Nürnberg bringen, dem Ort der mächtig inszenierten Reichsparteitage der NSDAP, aber auch der Schauplatz der Nürnberger Prozesse.
Vorausgegangen waren wie stets im Rahmen des Projektes etliche Vorbereitungsveranstaltungen. So referierte Felix Börner über die Eintracht in der Nachkriegszeit, Tobias Freimüller berichtete über den Neuanfang jüdischen Lebens in Frankfurt nach der Shoah und Matthias Thoma stellte seine Biographie über Sonny vor, deren Veröffentlichung dieser leider nicht mehr miterleben durfte. Wir besuchten die Westend-Synagoge sowie das ehemalige Lager für Displaced Persons in Zeilsheim. Und wenige Tage vor Beginn der Reise führte uns Stefan Minden das Drama der deutschen Nachkriegsjustiz vor Augen. So fand sich selbst im Jahr 1957 kaum jemand in führender Position des Bundesjustizministeriums, der als unbelastet galt. Die meisten Mitarbeiter waren Mitglied in der NSDAP und/oder der SA und etliche von ihnen schon vor 1945 im Reichsjustizministerium tätig.
Am Morgen des 25. März 2024 bildeten rund 35 Eintrachtfans die diesjährige Reisegruppe, die sich auf den Weg nach Nürnberg machte. Auf dem Plan stand eine geführte Tour durch das Memorium Nürnberger Prozesse und am folgenden Tag ein dreistündiger Rundgang über das einstige Reichsparteitagsgelände nahe des Nürnberger Stadions.
Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
Unmittelbar nach Ankunft und einem Altstadtbesuch ging es weiter zum Justizpalast, der durch den ersten Nachkriegsprozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher internationale Berühmtheit erlangte. Der Justizpalast blieb während des Krieges weitestgehend unversehrt und bot die passende Infrastruktur für einen Prozess dieses Ausmaßes. Dass Nürnberg der Ort der Verabschiedung der Rassengesetze war und zudem die Nazis ihre Reichsparteitage mit Lichtdom und Massenaufmärschen vor Ort abhielten, spielte für die Entscheidung nur eine untergeordnete Rolle. Der Prozess im Schwurgerichtssaal 600 begann am 20. November 1945 und dauerte bis zum 1. Oktober 1946. 12 der ursprünglich 24 Angeklagten wurden zum Tod durch den Strang verurteilt, sieben zu Gefängnisstrafen, drei feierten einen Freispruch und ein Verfahren musste eingestellt werden. Einer der Angeklagten, Robert Ley, der Organisator der Reichsparteitage, hatte sich vor Prozessbeginn in seiner Zelle erhängt. Martin Bormann wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt, er galt als verschollen. Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass er schon zum Zeitpunkt des Prozesses nicht mehr gelebt hatte. Am 16. Oktober 1946 wurden die verbliebenen zehn Delinquenten, darunter der Gründer und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer Julius Streicher, Außenminister Joachim von Ribbentrop und der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, gehängt. Einzig Reichsmarschall Hermann Göring entzog sich dem Strick durch Suizid und setzte seinem Leben wenige Stunden vor dem Hinrichtungstermin ein Ende – mittels einer Zyankalikapsel, die auf bis heute ungeklärten Pfaden seine Zelle erreichte. Der letzte einsitzende Gefangene, Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess, starb im Alter von 93 Jahren 1987 in seiner Zelle durch Suizid. Alle Angeklagten hatten zuvor auf „Nicht schuldig im Sinne der Anklage“ plädiert. Außer Kaltenbrunner und Speer hatten die zum Tode Verurteilten Gnadengesuche eingereicht, die jedoch kein Gehör fanden.
Der Nürnberger Prozess war der einzige, der von den vier Alliierten gemeinsam durchgeführt wurde. Zu verschieden waren die Interessen Englands, Frankreichs, der UdSSR und der Vereinigten Staaten, als dass die Siegermächte auf Dauer an einem Strang ziehen konnten. Beklagten England, Frankreich und die USA jeweils ca. 500.000 Todesopfer durch den Krieg, so beweinte die Sowjetunion über 25 Millionen Menschen und eine Schneise der Verwüstung im eigenen Land. Kein Wunder, dass die sowjetischen Richter für jeden der Angeklagten die Todesstrafe gefordert hatten. Entscheidend für das Strafmaß allerdings war eine Drei-Stimmen-Mehrheit der vier Richter. Dem Prozessbeginn ging eine Debatte voraus, die sich um die Art und Weise der Verurteilung drehte, denkbar waren angesichts der Gräueltaten und Schwere der Verbrechen auch Schauprozesse oder die Hinrichtung der führenden NS-Köpfe ohne Urteil. Doch setzte sich letztlich nach zähen Verhandlungen die Idee des Gerichtsverfahrens und der Bestrafung durch den Internationalen Gerichtshof durch. Die angeklagten Täter konnten sich anders als ihre Opfer einem Prozess mit Anhörung und Verteidigung stellen. Angeklagt aber war ein jeder in bis zu vier Punkten:
1. Verschwörung zum Angriffskrieg.
2. Verbrechen gegen den Frieden.
3. Kriegsverbrechen.
4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Angeklagten mussten sich „nur“ für Verbrechen zwischen 1939 und 1945 verantworten. Und auch nur für Verbrechen außerhalb Deutschlands. Für Verbrechen vor 1939 und innerhalb Deutschlands war der internationale Militärgerichtshof nicht zuständig. Auch der Holocaust wurde erstaunlicher Weise nicht verhandelt, die Singularität des Verbrechens an den Juden zeigte sich auch dadurch, dass Völkermord erst durch die Shoah 1948 zur eigenen Anklagekategorie des Völkerrechts wurde.
In zwei Gruppen wurde wir durch das Memorium geführt, saßen im eigens für den Prozess umgebauten Schwurgerichtssaal 600, der unmittelbar nach der Rückgabe an die Deutsche Justiz ab 1960 wieder zurückgebaut wurde, so dass sich heute kaum Inventar von damals findet. Erst seit 2020 wird der Saal nicht mehr für aktuelle Prozesse genutzt und kann dauerhaft besichtigt werden, ebenso wie die Dauerausstellung im Stockwerk darüber, die beredt Kenntnis der damaligen Zeit vermittelt. Erstmals dienten Filmaufnahmen als Beweismittel, ein Novum war auch die Simultanübersetzung in vier Sprachen. Rund 400 Journalisten konnten den Prozess vor Ort verfolgen, darunter Willy Brandt, Erich Kästner, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Ilja Ehrenburg. Der Prozess geriet zum ersten Massenmedienspektakel, die gleißenden Neonröhren spendeten entsprechendes Licht für die Fernsehkameras, so dass die Angeklagten während der Verhandlung Sonnenbrillen tragen durften.
Im Anschluss an den ersten großen Prozess fanden noch zwölf Nachfolgeprozesse gegen hochrangige Industrielle, aber auch Ärzte und Juristen in Nürnberg statt – allerdings nur vor amerikanischen Tribunalen. Der kalte Krieg hatte bereits begonnen. Und wäre es nach einem Großteil der deutschen Bevölkerung aber auch der Politik gegangen, so wäre die NS-Zeit recht schnell zu den Akten gelegt worden. Als Hauptschuldiger wurde Hitler ausgemacht, der Rest hatte entweder Befehle ausgeführt oder aber von nichts gewusst. Eine Lüge, wie wir heute wissen. Und so ist es Leuten wie Fritz Bauer zu verdanken, dass unter das unfassbarste Verbrechen der Menschheitsgeschichte kein vorzeitiger Schlussstrich gezogen wurde.
Das Reichsparteitagsgelände
Wie schon im Memorium teilten wir uns am folgenden Morgen nach Ankunft an der Kongresshalle in zwei Gruppen auf und wie schon tags zuvor nahmen sich Vertreter:innen des Vereins „Geschichte für alle e. V.“ uns an und führten sachkundig über das weitläufige Gelände, in dessen unmittelbarer Nähe im heutigen Max Morlock Stadion der 1.FC Nürnberg seine Heimspiele austrägt – und die Eintracht 1932 das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft gegen die Münchner Bayern verlor. Viele von uns werden schon in der „Großen Straße“ am angrenzenden Messegelände geparkt haben.
Noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 inszenierte die NSDAP mehrere Parteitage, die jedoch mit denen ab 1933 nicht mehr vergleichbar waren. 1923 in München und 1926 in Weimar sowie 1927 und 1929 in Nürnberg. Erst ab 1933 lieferten die Reichsparteitage jene Propagandabilder der organisierten Masse, die Leni Riefenstahls Propagandafilm über den Parteitag von 1934 mit dem Titel „Triumph des Willens“ auch noch ästhetisch überhöhte. Diese Parteitage, der letzte ging 1938 über die Bühne, waren mitnichten Orte der Debattenkultur. Sie dienten ab 1934 jeweils im September der Propaganda, dem Führerkult und der völkischen Überhöhung.
Organisator der Parteitage war Robert Ley, auch „Reichstrunkenbold“ genannt, der sich 1946 seiner Verurteilung durch Suizid entzog. Verantwortlicher Architekt war Albert Speer, der später als Rüstungsminister tief in den Holocaust verstrickt war und dem es dennoch gelang, im Nürnberger Prozess seine wahre Beteiligung an den NS-Verbrechen zu verschleiern – woraufhin er der Todesstrafe entging und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ihm oblag die Gestaltung des 16,5 km² großen Geländes und der Gebäude mit Ausnahme der Kongresshalle, die von den Nürnberger Architekten Ludwig Ruff und dessen Sohn Franz konzipiert wurde.
Die Planung sah neben der monumentalen Kongresshalle nach Art des Kolosseum in Rom ein Stadion für 400.000 Menschen vor, dazu das Zeppelinfeld samt Zeppelintribüne, die Bebauung des Luitpoldhains mit der Luitpoldarena, das Märzfeld, (eine 1000 Meter breite und 600 Meter lange Aufmarschfläche umrahmt von Zuschauertribünen und Wehrtürmen) am Ende der Großen Straße, eine zwei Kilometer lange und 60 Meter breite Paradestraße. Hinter dem Märzfeld sollte ein Bahnhof entstehen. Fertiggestellt wurden die Zeppelintribüne und die Luitpoldarena. Im September 1939 überfiel Nazi-Deutschland Polen und der 2. Weltkrieg begann. Und auf dem Märzfeld resp. dem Bahnhof entstand nach Kriegsende der Stadtteil Langwasser.
Die Ruine der Kongresshalle, die eigentlich doppelt so hoch werden sollte, zeugt selbst in der jetzigen Form von einem Größenwahn der Nationalsozialisten, der alle Baustile des Monumentalen absorbierte, um ein in dieser Größe noch nie dagewesenes neoklassizistisches Gesamtbild zu erzeugen. Als Vorbilder dienten die mächtigen Bauwerke einstiger großer Weltreiche wie das der Römer oder der Griechen. Die Kongresshalle ist ein bis heute auf halber Höhe unvollendeter Bau ohne Dach – und symbolisiert damit auch den Untergang des 1000-jährigen Reiches nach desaströsen zwölf Jahren. Vom gigantischen Plan des Deutschen Stadions blieb alleine der Grundstein, außer einigen hölzernen Fassaden wurde nichts zustande gebracht.
Die Massenaufläufe während der Parteitage in der Luitpoldarena, die gottgleiche Inszenierung Hitlers als Heilsbringer und Messias, die reliquienhafte Verehrung der Blutfahne, die angeblich schon 1923 beim gescheiterten Hitlerputsch in München mitgeführt wurde, die choreographierte Wucht des ab 1936 aus hunderten (Flag)scheinwerfern in die Nacht geworfenen Lichtdoms (Kathedrale aus Eis) auf dem Zeppelinfeld, standen in ihrer Inszenierung im krassen Gegensatz zur alltäglichen Realität. In den Lagern hinter dem Märzfeld stank es nach Fäkalien, da die wenigen Toiletten bei Weitem nicht ausreichten und die SS achtete vor den Bordellen in der Stadt darauf, dass diese nicht in Uniform besucht wurden. Zu sehr hatten die Parteisoldaten sich gehen lassen. „Ein Nationalsozialist trinkt nicht“ lautete ein Wahlspruch – der getrost ignoriert wurde, das Bier im Lager war billiger als in der Stadt und die Geburtenzahlen schossen neun Monate nach den Parteitagen in Nürnberg in die Höhe. Kein Wunder, dass privates Fotografieren während der Parteitage streng verboten war. Kein Funken Wirklichkeit sollte die Inszenierungen trüben. Acht Tage lang inszenierten sich die Nationalsozialisten in falscher Größe, 400.000 – 500.000 Menschen der neuen, großen Volksgemeinschaft berauschten sich an Masse, Propaganda, Fassade, Drill und huldigten dem Führer. Und sie lauschten 1935 der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze, die ein wesentlicher Baustein der Ausgrenzung und späteren Vernichtung derer waren, die die Nazis nicht zur Volksgemeinschaft zählten. Wie Juden oder Sinti und Roma.
Zum Rahmenprogramm der Reichsparteitage gehörten Sportveranstaltungen, an denen auch Vertreter, vorwiegend Leichtathleten, der Eintracht teilnahmen. Aber auch die Fußballer statteten im März 1939 vor einem Freundschaftsspiel gegen den Club dem Gelände einen Besuch ab. Die einstigen Juddebuben lobpreisten in den Stadionheften regelrecht Bauten und Politik des Nationalsozialismus. Dass der Überfall auf Polen dafür sorgte, dass der 1938er Parteitag auch der letzte seiner Art blieb und der für 1939 geplante „Parteitag des Friedens“ wegen des Einmarschs in Polen ins Feuer fiel, ahnten sie wohl ebenso wenig wie die fast vollständige Zerstörung Nürnbergs nach Kriegsende.
Heute zeigt sich das Gelände am Dutzendteich eher friedlich. Im See schwimmen rosa leuchtende Bootsflamingos, auf dem Volksfestplatz wartet ein Riesenrad auf Kundschaft und vor dem Mittelteil der Zeppelintribüne mit der einstigen Führerkanzel, dem neben der Kongresshalle einzig verbliebenem Bauwerk der Nazis, drehen Jogger ihre Runden. Der Rest der mächtigen Tribüne, die an den griechischen Pergamonaltar erinnerte, wurde 1967 gesprengt. Einerseits wegen Baufälligkeit, andererseits wurde so auch ein Teil der unangenehmen Vergangenheit entsorgt. Eine der markanten Feuerschalen steht heute im Goldenen Saal, eine über 300 m² großen Halle innerhalb der Tribüne. Die andere wurde buntbemalt bis 2008 als Kinderplanschbecken im Schwimmbad genutzt. Als Bob Dylan 1978 auf dem Zeppelinfeld konzertierte, wurde dessen Bühne so konzipiert, dass die 80.000 Zuschauer die Führerkanzel hinter sich wussten und anders als in den 30er Jahren Hitler während des Konzerts symbolisch den Rücken zukehrten.
Zeitgeschichtlich Interessierte können heutzutage das gesamte Areal rund um den Dutzendteich durchwandern und sich auf einem historischem Rundgang anhand von 12 Tafeln über die großmannssüchtigen Pläne der Nazis und deren (krachend gescheiterte) Umsetzung informieren. Es ist kalt geworden, fröstelnd suchen wir eine Wirtschaft auf, um uns zu wärmen – und wenig später auf der Autobahn bei Würzburg einen schweren Unfall zu beobachten, Blaulicht kreist in den grauen Tag, aber unser Busfahrer bringt uns sicher nach Frankfurt. Müde und voller Gedanken verstreut sich die Gruppe in alle Winde. Bis zur nächsten Spurensuche. Die ja nicht nur die Vergangenheit erhellt, sondern auch die Gegenwart beleuchtet. Nie wieder ist jetzt!
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