Genau 20 Jahre ist es her, seit ich letztmals Prag besuchte. Damals bin ich ohne Gepäck und ohne Fahrrad – es wurde aus dem Auto geklaut – über Pilsen nach Frankfurt getrampt. Ein Lette, oder wars ein Litauer, brachte mich von der Grenze in halsbrecherischer Fahrt an den Kaiserlei, Am gleichen Abend wurden die Griechen, die zuvor die Tschechen eliminiert hatten, Europameister. Diesmal ließ ich vorsorglich mein Fahrrad in Frankfurt, man weiß ja nie. Und fuhr mit der Bahn.
Wir brachen in aller Herrgottsfrühe auf, die Bahn sollte eine gute halbe Stunde eher als geplant losrollen – zunächst bis Regensburg, dann nach einer guten Stunde die Weiterfahrt mit dem tschechischen Regionalzug über Pilsen nach Prag. Ursprünglich sollten wir um 14:23 Uhr in Prag ankommen, es wurde letztlich 15:00 Uhr, damit konnten wir gut leben. Wie gut, sollten wir auf der Rückreise erfahren. Wir verließen die Bahn nicht am Hauptbahnhof, sondern schon eine Station davor, in Smíchov, wobei uns ein dem Schwejk wie aus dem Gesicht geschnittenem Tscheche signalisierte, noch nicht am Hauptbahnhof zu sein. Wir bedankten uns und vermittelten, dass wir absichtlich hier aussteigen wollten. Welch ein liebenswerter Empfang.
Von Smíchov rollten wir, nachdem wir uns via App ein Tagesticket gegönnt hatten, mit der roten Straßenbahn zur Station Újezd. Nur wenige Meter davon entfernt lag unsere Unterkunft, ein Zimmer in einer Wohnung, Bad und Küche geteilt. Wir zogen noch schnell ein paar Kronen, checkten ein und gönnten uns einen Kaffee auf der Straße. Anschließend schlenderten wir Richtung Karlsbrücke, über uns erhob sich das Schloss, unten wuselten Tourist:innen umher, die Moldau mäanderte ihres Wegs und wir überquerten den Fluss, trieben kurz durch die belebte Altstadt und hatten kaum ein Auge für die Schönheit der Architektur, für die Plätze, da es einfach zu voll zum Entspannen war – obgleich der Peak noch nicht erreicht schrien. Gruppen von jugendichen Klassenausflüglern machten die Straßen unsicher, Touristen ließen sich in Fake-Oldtimern durch die Gassen kutschieren, kurz: es war mords was los, so dass wir erneut über die Karlsbrücke die Moldau überquerten und uns am Fluss entlang in ruhigere Gefilde begaben.
Wir waren westlich der Altstadt im Stadtteil Malá Strana zuhause. Kurz hinter unserer Unterkunft beginnt der Hausberg Prags, der Petřín – eine Standseilbahn ratterte den Hügel nach oben, und brachte uns in wenigen Minuten in die Höhe – und der Ausblick ist gleich null. Überall Bäume, machmal ist Natur schon lästig. Aber Seilbahnfahren macht Laune, egal wo. Ob in Kiew von der Unterstadt nach oben, den Tibidabo in Barcelona hinauf oder in Lissabon hoch ins Bairro Alto. Auch hier oben ist es ruhig und schön – und hier steht auch der Prager Eiffelturm der Aussichtsturm Petřín, der zwar nur knappe 60 Meter hoch ist, durch seine Lage auf dem Berg jedoch in der Spitze genau so weit über dem Meeresspiegel liegt wie der große Bruder in Frankreich. Der Eintritt ist zwar verhältnismäßig teuer und du musst die knapp 300 Stufen bis hin zur zweiten Plattform laufen, aber es lohnt sich. Auf der ersten Etage genießt man einen Ausblick im Freien, die Umrundung des Turms ist weder vergittert, noch verglast. Anders als oben, aber dort kannst du immerhin durch geöffnete Fenster bis in den Böhmerwald gucken – so die Wolken es zulassen. Wir identifizierten die Gebäude, die wir kennen – wie man es aus der Höhe so macht – und freuten uns, dass nur wenige Menschen auf die gleiche Idee kamen. Durchatmen.
Einiges schneller als auf dem Hinweg spazierten wir nach unten, passierten ein Jahrhunderte altes Karussell und wanderten an der Außenmauer entlang in Richtung der über 1000 Jahre alten Burg, der Pražský hrad. Erstaunlicherweise war auf dem weiträumigen Gelände nur wenig Betrieb – auch der sonst recht präsente Franz Kafka lief uns nur in Form eines Häuschens, in dem er eine Zeitlang lebte und schrieb über den Weg. Ordnungsgemäß erstand Pia vor Ort ein Werk seiner genau hier geschriebenen Geschichten und bekam sogar einen Stempel ins Büchlein. Die junge Verkäuferin war äußerst belesen und referierte präzise über Kafkas Leben. Wenn ihr mal vor Ort seid, grüßt sie von mir. Ich bin der mit dem Stempel im Buch. Auf der anderen Seite gibt es einige Werke, die der berühmteste Prager Autor nicht vollendete – ich kann es verstehen, zu mühsam, zu kafkaesk gehen die Dinge in der Dichtung und zuweilen im Leben zu, ich hätte auch die Segel gestrichen und mich anderen Dingen gewidmet, vielleicht sogar einmal gelacht. Aber wir wollen ihm nicht unrecht tun, immerhin hatte Kafka einst angeordnet, dass nach seinem Ableben alle Werke vernichtet werden. Sein Kumpel Brod hat sich nicht dran gehalten – und nun haben wir den Salat. Wir müssen uns in den Oberstufen durch die zwar schlauen aber freudlosen Texte quälen – und der Poet hat nichts davon. Quasi der van Gogh der Dichter nur ohne Sonnenblumen. Aber Kafka hatte noch beide Ohren als er starb. Soweit ich weiß.
Natürlich schloss die von uns erwählte Gaststätte just in dem Moment ihre Pforten als wir ausgehungert gegen 21 Uhr und weit über 20.000 Schritten auf die Idee kamen, endlich einzukehren – und etliche andere taten ihr gleich. Wohl dem, der/die eine Tageskarte in der App besitzt, wir nahmen schnurstracks die Bahn Richtung Anděl, fanden eine Wirtschaft und bekamen binnen Sekunden Pivo. Fast genau so schnell kam auch das Essen, für Pia Burger, für mich Svíčková. Der Kellner hob anerkennend die Augenbraue, als ich orderte. Wahrscheinlich spricht sowieso kaum ein Němec das Wort so schön aus wie ich. Daran ist Klara dran schuld, die es mir vor über 20 Jahren beigebracht hatte. Leider lebt sie nicht in Prag, sondern in Brno – und das lag nicht auf unserer Tour. Übrigens war es mein erstes Bier seit über anderthalb Jahren und wo sonst sollte ich es trinken als ich Tschechien? Aber Lust auf ein zweites hatte ich nicht. Sowas hätte es früher nicht gegeben. Müde fielen wir nur wenig später in die Koje.
Am folgenden Morgen drang der Verkehrslärm von der Straße durchs geöffnete Fenster ins Zimmer, die Bahnen rollten in dichten Abständen von Haltestelle zu Haltestelle, Autos plockerten über die Pflastersteine und wir machten uns gegen neun auf den Weg zum Frühstück. Im Mezi řádky wurden wir fündig. Du findest in Prag wirklich alles, völliger Schrott zu überteuerten Preisen für tumbe Reisende und richtig gute Sachen, die sich auch Einheimische leisten können. Das Mezi řádky war gemütlich, die Auswahl nett wie die Menschen die hier arbeiteten – bloß eine Bedienung erinnerte von ihrem schweigsamen, nahezu wächsernen und keine Mine verziehendem Auftreten an einen berühmten tschechischen Autor. Aber sie war keineswegs unfreundlich – und das ist mehr, als man in diesen Zeiten verlangen kann.
Heute stand ja das eigentlich Highlight unserer Reise an, der Auftritt der Interrupters bei einem Open-Air-Konzert. Der Festivalsommer steht vor der Tür (Kafka) und die Interrupters eröffnen in Prag in Braník, einem Prager Stadtteil, einen Steinwurf von der Autobahn entfernt. Zuvor warfen wir ein Blick auf die bemerkenswerte Skulptur, die an die Opfer des Kommunismus erinnert. Anschließend brachen wir in Richtung des Festivalgeländes, Ledárny Bráník, auf, um uns die Location bei Tageslicht anzusehen. Die Straßenbahn Nummer 9 brachte uns quasi von zuhause an den Park. Wir passierten einen Skaterpark und keine fünf Minuten später standen wir am Einlass, das Tor stand sperrangelweit offen. Equipment wurde hin und her geschleppt, Stände aufgebaut – alles in allem ein munteres Treiben, in das wir selbstbewusst hinein spazierten. In einem hinteren Eckchen parkte der Tourbus der Interrupters – aber unsere Hoffnung, wie alte Bekannte einen Kaffee mit der Band zu trinken erfüllte sich nicht. Leider. Naja, vielleicht nächstes Mal.
Wir inspizierten die Lage auch von oben, nahmen dann das Bähnchen zurück und stiegen in ausreichender Entfernung zur Autobahn aus. Und wir blieben nicht untätig, sondern spazierten hinauf zur Vyšehrad, in deren Gelände sich die mächtige Peter und Paul Kirche befindet. Und der Vyšehrader Friedhof. Hier liegen, recht idyllisch, Antonín Dvořák, Bedřich Smetana und Josef Bican. Die ersten beiden komponierten, Letzterer kickte – und das ziemlich gut. Er trug heute noch einen Fanschal, obgleich er schon 1934 bei der WM ziemlich weit kam. Als Österreicher! Auch auf dem Burggelände war es von überschaubaren Gewusel. Irgendeine tschechische Schulklasse war immer unterwegs, ein Selfie wurde immer geknipst – aber man konnte sich unaufgeregt treiben lassen und die Ausblicke genießen.
Später trieben wir runter an die Moldau, die auf tschechisch übrigens Vltava heißt, vorbei am tanzenden Haus und gönnten uns ein Mittagessen in einem Gewölbekeller. Die Tageskarte wurde uns zwar nicht vorgelegt, da wir eindeutig als Touris zu erkennen waren, aber da hier auch Einheimische speisten, konnten wir so falsch nicht liegen – und ja, es war okay. Nach einem kurzen Zwischenstopp in der Unterkunft machten wir uns zum zweiten Mal auf Richtung Ledárny Bráník, guckten uns die Inselchen inmitten der Moldau an, Touristen paddelten mit Tretbootchen über den Fluss, die Sonne schien mild und in einer lauschigen Wirtschaft tranken wir noch einen Aperol (Pia) und eine Kofola (Beve). Kofola ist eine tschechische Cola und schmeckt wahrscheinlich nur hier – unserer Bedienung aber scheinbar überhaupt nicht. Aber zum Schluss hat sie doch gelacht. Wir waren nicht die einzigen Konzertbesucher vor Ort, T-Shirts, Schuhe und Optik sprachen eine deutliche Sprache.
Für die letzten Meter nahmen wir wieder die Bahn, die wir wie heute morgen an der Station Pobřežní cesta verließen. Nach wenigen Schritten erreichten wir den Eingang, der Trubel war überschaubar, unsere Tickets gültig und eine Kontrolle fand nicht statt. Ach wie herrlich normal. Im Laufe des Tages hatte mich noch eine mail mit dem Ablauf des Tagesprogramms erreicht. Um 17 Uhr öffnete der Einlass, um 19:10 Uhr sollte die Vorband beginnen, The Fialky, und um 20:30 Uhr die Interrupters. Das Endes des Abends wurde für 22:00 angekündigt, wahrscheinlich den Anwohnern geschuldet. Wir drehten eine Runde ums Gelände und hockten uns dann an den Rand auf ein Stückchen Kunstrasen – und blieben im Grunde dort bis Abpfiff. Die Zeiten, mitten im Getümmel zu rocken, sind auch schon länger vorbei. Aber wir waren ja nicht weit weg von der Bühne, die kurz nach 19 Uhr von den „Veilchen“ geentert wurde. Tschechische Cock Sparrer würde ich sagen, die Leute gingen und sangen mit, es war der perfekte Auftakt, der von Zuschauern auch mit Rauch supportet wurde.
Ebenfalls einige Minuten vor der Zeit betraten die Interrupters die Bühne, erst die drei Brüder Bivona, ein paar Sekunden später auch Aimee Allen, seit ihrer Zugehörigkeit zur Band Aimee Interrupter. Die Frau ist ein Phänomen, bringt Power und gute Laune, obgleich nicht alles glatt lief und sie davon auch singt:
Wir hatten das große Glück, die Band schon im vergangenen Jahr in Saarbrücken zu sehen, jetzt also Prag. Pünktlich nach dem ersten Song begann es dann tatsächlich zu regnen, ein Regenbogen erblickte das Licht der Welt … Anything was better, than where I was from … Die Nässe legte sich wie ein hauchdünnes Deckchen über uns, die relative Kälte dazu, vorne tobte die Band, der Regen ließ nach – aber die Ungemütlichkeit kraulte langsam in mir hoch, was ich schlicht ignorierte und fröhlich mitsang: Fight like a title holder, Stand like a champion, Live like a warrior, And never let ‚em break you down … Es war großartig, ein Song folgte auf den nächsten, Freundschaft, Niederschläge, Aufstehen. Hie und da ein paar Stories, bad guy von Billie Eilish dazu, Spielfreude – bei den letzten Liedern bin ich dann doch nach vorne, es nutzte ja alles nichts. Ich lieb die Band. Neben And also the trees und Springsteen und den Pogues vielleicht der Soundtrack meines Lebens.
What’s your plan for tomorrow?
Are you a leader, or will you follow?
Are you a fighter, or will you cower?
It’s our time to take back the power!
Kurz vor 22 Uhr war Feierabend und ich merkte die Erkältung in mir hochziehen. Wir marschierten zur Haltestelle, erwischten die erste ankommende Bahn und rollten dennoch für einen nächtlichen Blick auf die Karlsbrücke und die Burg noch einmal in die City. Der folgende Tag war schon der Abreisetag und wer weiß schon, ob oder wann wir wieder einmal hierherkommen werden. Natürlich waren wir nicht alleine, aber die Nachtkraft von Brücke und Schloss waren greifbar. Und dann schleppten wir uns die letzten Meter nach Hause und fielen todmüde ins Bett. Ich merkte, ich war angeschlagen.
Morgens nach dem Frühstück zöckelten wir mit der Standseilbahn noch einmal hoch auf den Petřín und marschierten an Blumen- und Streuobstwiesen in die Ebene, bewunderten unten noch einmal die macaronfarbenen Altbauten, packten unsere Siebensachen und rollten langsam Richtung Hauptbahnhof. Auch hier war das Elend zuhause, die Armut, der Suff. Elendsgestalten hockten auf den Bänken im Grünstreifen, ein anderer pöbelte vor dem Gebäude. Da wir noch ein wenig Zeit hatten, trieben wir uns in der Ecke rum, staunten über die mächtige Synagoge und als es an der Zeit war, stiegen wir in die Bahn ein. Es war wieder der tschechische Regionalzug nach Regensburg, der pünktlich abfahren sollte – und mit unwesentlicher Verspätung Regensburg auch erreichte. Ab dann sollte es spannend werden. Schon gestern Mittag hatte die Deutsche Bahn signalisiert, dass die gebuchte Fahrt so nicht möglich sei und quasi ausfällt. Es brauchte ein Weilchen der Recherche, bis wir herausfanden, dass eigentlich alles funktioniert und nur der Halt am Frankfurter Hauptbahnhof entfiele – dafür aber ein Halt in Frankfurt Süd eingeplant sei. Ah, das klang doch gut. Später hieß es, der Zug von Regensburg nach Frankfurt sei hoffnungslos überfüllt, da ein großer Wagen fehlen würde. Aber er käme halbwegs pünktlich. Dann hieß es, der Zug habe zwei Stunden Verspätung. Dann hieß es, er hält doch am Hauptbahnhof. Wir erfuhren unterdessen, von einem umtriebigen Schalterbeamten in Regensburg, dass es eine schnellere Alternative gäbe. Mit dem Regionalzug, der nur eine knappe halbe Stunde Verspätung hat, nach Nürnberg – dann, so wir ihn erwischen, mit einem anderen ICE Richtung Dortmund – diser würde eine Stunde eher in Frankfurt halten als der gebuchte.
Soweit so gut. Der Regionalzug nach Nürnberg kam irgendwann, die Durchsagen im Bahnhof glichen Slapstickeinlagen, alle Züge hatten irrwitzige Verspätungen, die Gründe so mannigfaltig wie die Tiere auf der Arche Noah. In Nürnberg erwischten wir den Zug Richtung Dortmund locker, konnten auch zwei Sitzplätze belegen – und standen erst einmal. Die Stimme im Zug entschuldigte sich lakonisch bis wir irgendwann doch losrollten. Und so ging es die nächsten 4,5 Stunden! Wir standen, wir schlichen – und hatten am End mit dem ICE 524 2,5 Stunden Verspätung in Frankfurt, ich war schlagkaputt. Der ursprüngliche Zug kam 15 Minuten später. Geringe Auslastung erwartet. Es war absurd. Als hätte Kafka über die Bahn geschieben. Wir schleppten uns auf der letzten Rille Richtung Nordend, und noch während des Zähneputzens fiel ich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen kränkelte ich. Aber es hat sich gelohnt, die Reise, die Eindrücke, das Konzert – und vor allem die Freude, mit Pia unterwegs zu sein. I don’t wanna die, I don’t wanna die, I don’t wanna die, But if I do die, do die, I know you’ll be by my side. Die Zeit, sie geht so schnell vorbei, nutzt sie, produziert Erinnerungen, seid unterwegs. Vielleicht klappt es ja eines Tages auch, mit der Band einen Café zu trinken
… I know, you won´t find a friend like me …
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