Seltsam, in manche Orte habe ich es in all den Jahren noch nie gepackt (Oslo, Stockholm, Osnabrück), in anderen lande ich hingegen ohne Absicht schon fast regelmäßig. Dazu gehört Helsinki. Erstmals stoppte ich hier 2019 auf dem Weg nach Tallinn, dann verweilten wir zum Supercup im vergangegen Jahr vor Ort und nun sitzen Pia und ich schon wieder im Flieger in die finnische Hauptstadt. Die Eintracht spielt gegen HJK Helsinki in der Conference League und wir sind im Besitz von Tickets. Helsinki im November also.

Eigentlich hatte mich die Stadt gar nicht mal so sehr gepackt. Sicher, die Festungsinsel Suomenlinna ist immer ein Trip wert, auch Seurassari weiter oben ist ein nettes Plätzchen und am Töölönsee bin ich auch gerne, aber die Preise und hohen Häuserwände in den Straßenschluchten wirken nicht gerade einladend. Auf den ersten Blick. Aber eine innere Kraft zog mich ein weiteres Mal nach Helsinki – und ich sollte es nicht bereuen.

Wir landen pünktlich am Flughafen Helsinki-Vantaa und schaffen es, ein Drei-Tages-Ticket in die HSL-App zu laden. Dann bringt uns die Bahn gemeinsam mit Chris über die Vororte zum Bahnhof Rautatieasema, einem der markantesten Orte Helsinkis. Von dort zöckelt eine grüne Straßenbahn der Linie 2 vorbei am Glaspalast zur Unterkunft in Richtung Töölö. Unser Schlüssel ist an einem nahen Kiosk hinterlegt, der uns auch prompt ausgehändigt wird. Nach wenigen hundert Fußmetern stehen wir vor unserer Haustür für die nächsten Tage. Direkt nebenan befand sich die Sibelius Akademie, ein paar Schritte weiter oben liegt ein Supermarkt sowie das Scandic Hotel. Und so langsam dämmert es mir, meine erste Unterkunft 2019 war nur ein paar Schritte die Straße runter. Ich bin quasi wieder zuhause.

Unsere gemietete Wohnung ist überschaubar – aber freundlich eingerichtet, alles was du brauchst ist vorhanden, der Blick geht durch eine Fensterfront über einen Balkon in den Hinterhof, das Badezimmer ist fußboden-beheizt, es ist ruhig. Der Aufzug ruckt unmittelbar an, sobald du den Etagenknopf drückst, und er macht keine Gefangenen. Die zwei Stockwerke können wir zwar locker laufen, aber es macht Spaß, damit zu fahren. Und so ruckeln wir wieder nach unten und laufen ein paar Meter runter zur Mannerheimerintie, die eine große Baustelle ist aber genau an unsere Querstraße eine Lücke lässt, um an den Töölönsee zu kommen, den wir fröhlich umrunden, vorbei am kleinen Wasserrad, an dem du dein Handy aufladen kannst (wenn du ein Kabel dabei hast), vorbei an den alten Kapitänshäusern und vorbei an den Gleisen, die uns eben noch hierher gebracht hatten. Hinter dem See gelangst du an den Kansalaistori-Platz mit der an die Elphi erinnernde Zentralbibliothek. Nebenan das Museum für Gegenwartskunst „Kiasma“ und das Musik-Zentrum „Musiikkitalo“. Mir fehlt ja das Verständnis für moderne Architektur – aber das Ensemble hier hat was, zumal sich die frühe Dunkelheit über die Stadt legt und die Nachtlichter Helsinkis für ein ganz eigenes Flair sorgen. Überhaupt: Architektur und (Grafik)-Design, zwei Themen die so gut wie nie an mich gingen – hier im Norden wirst du zart in die Beschäftigung damit geschubst und so ein kleines bisschen eröffnen sich neue Gedankenwelten.

Die Hauptverkehrsader Helsinkis ist die schon erwähnte Mannerheimintie, der Verkehr pulsiert jedoch nicht ganz so wie sonst, die Straßenbahnen fahren ob der Baustelle Umwege, doch die Neonlichter der Reklame leuchten wie eh und je, unsere Blicke bleiben, nicht zum letzten Mal, am Glaspalast hängen. Weiter unter offeriert der Irish Pub Bier für 3,50 – eine Anlaufstelle der Eintrachtfans. Das große Stockmann-Kaufhaus beeindruckt durch eine Schaufensterdekoration vor der sich nicht nur die Kinder die Nase platt drücken. Wir aber suchen das Restaurant Zetor, dort sind wir mit etlichen anderen Eintrachtfans verabredet, organisiert von Sven, der schon lange bei Helsinki lebt und obwohl aus Hamburg kommend großer Eintrachtler ist. Nachdem wir den Block ein paar mal umrundet haben, werden wir fündig.

Bei Rentiersteaks, Bier, Meatballs und Wasser lässt es sich neben vielen bekannten und langjährigen Eintrachtlern gut sitzen, wir stoßen auf Anno an, der nie mehr dabei sein kann und so vergeht gemütlich die Zeit, bis wir am dunklen Abend noch einmal an den Hafen treiben und dann mit der Straßenbahn vom Senatsplatz nach Hause rattern und bei einem Tee den Tag Revue passieren lassen. Im Hintergrund laufen leise Lieder von Kari Bremnes.

Am nächsten Morgen frühstücken wir im Café Tin Tin Tango um die Ecke am Marktplatz, es gibt Kaffee, Tee und natürlich Ohrfeigen. So heißen die Cinnamon Buns angeblich auf deutsch – wenn man das finnische Wort „Korvapuustit“ übersetzt. Vielleicht heißt es auch einfach nur Zimtschnecken. Dann brechen wir auf Richtung Markthalle am Hafen, dort sind wir zu einer kleinen Stadtführung mit Sven und der Reisegruppe von gestern Abend verabredet. Sven ist pünktlich und mit ihm spannt sich ein Regenbogen über Dom und den Hafen. Wolkenblau der Himmel.

Alsbald sind wir vollzählig, sogar Kathrin ist mit der Fähre aus Tallinn gekommen und schließt sich uns an. Wir marschieren über den Hafen durch die City, vorbei am Präsidentenpalast, der sich – da die Fahne weht – auch gerade im Gebäude aufhält, was uns nicht größer juckt. Dafür erfahren wir die nächsten zwei Stunden unterhaltsame Anekdoten über Gerre, Trolle und finnische Fassadengestaltung. Sodann trennen sich unsere Wege, die Gruppe verstreut sich in alle Winde und während Kathrin und Pia sich in der Markthalle noch ein Süppchen gönnen, drehe ich eine Runde über den Marktplatz, der im Sommer voller orangener und weißer Pavillons ist, die heute nur vereinzelt Speisen und Souvenirs anbieten. Pünktlich um 12:20 entern wir die Fähre nach Suomenlinna, die Festungsinsel vor den Toren der Stadt. Und wir sind nicht die einzigen, die sich auf der 15-minütigen Fahrt den Wind um die Nase wehen lassen. Vor einem Jahr lagen wir auf der Insel auf Felsensteinen und ließen uns die Sonne um die Nase wehen, heute ist es weitaus frischer. Wir umrunden Suomenlinna mit seinen rund 850 Einwohnern, sparen uns den Blick auf die Kanonen und tuckern wieder zurück. Am Senatsplatz springen wir in die Straßenbahn und machen es uns zuhause gemütlich – bis uns das Stadion ruft. Heute ist Matchday, die Eintracht spielt gegen Helsinki, diesmal nicht wie letzten Sommer im Olympiastadion, sondern nebenan in der Bolt Arena, Anpfiff ist um 18:45. Dass dies nach örtlicher Zeit erst um 19:45 ist, merken wir erst in der Straßenbahn. Da das Stadion aber nicht wirklich weit von unserer Unterkunft entfernt liegt, steigen wir an der Oper aus und spazieren die Hauptstraße zurück und betrachten die Schaufenster, die Menschen in den Restaurants, das unaufgeregte Leben. Ein neuer Anlauf bringt uns zurück ans Stadion, dort treffen wir uns mit Heike und Kathrin und sehen den Mannschaftsbus der Eintracht. Kathrin biegt ein paar Meter vor uns in einen leeren Eingang ein, wir anderen drei müssen uns in die Schlange vor dem Gästeeinlass einreihen, wobei es zügig voran geht – und alsbald sind wir drin. Da wir nach ein paar Metern Moni und Ingo treffen, stellen wir uns dazu, ein nettes Plätzchen wie uns scheint, die Ecke ist greifbar nah, die Sicht ist gut. Die Helsinki Hymne erklingt – und erinnert an die von Chelsea.

 

Nach ein paar Minuten schleppen ein paar Jungs einen Stehtisch an und stellen ihn auf die Stufen, es kann losgehen. Die Kurve leuchtet in Rot, es wird etwas neblig, gegenüber blitzen die Fans von Helsinki inmitten ihres Nebels, doch alsbald herrscht wieder freie Sicht – auch auf den Schnurrbart von Kevin Trapp. Neben mir steht Alex, so stellt er sich zumindest vor – und Alex hebt alle naslang seine Faust zwecks Ghettofaust. Alex hat Babbelwasser getrunken, ich grinse. Das sollte mir aber nach einer guten halben Stunde vergehen. Ecke für Helsinki, Hostikka steht bereit, als direkt neben mir ein leerer Becher fliegt, der aber ob seiner Leichtigkeit vom Winde verweht wird. Dann fliegt ein halbvoller Becher, ich sehe zwar nicht den Werfer, kann aber die Flugbahn verfolgen, die exakt am Hinterkopf von Hostikka endet. Dieser bleibt mannhaft stehen, der Schiedsrichter kommt angesprintet und sammelt das Objekt der Tat ein, leider nicht das Subjekt. Wie blöde kann man sein, da stehst du nah am Spielfeld, keine Zäune, beste Sicht, entspannte Stimmung – und immer bettelt ein Arschloch um Repressionen. Unterdessen verteilen Fans, die das Spiel nicht sonderlich zu interessieren scheint, vom LKW gefallene Schokolade. Chaibi macht das 1:0 für die Eintracht, High Five allenthalben. Alex freut sich jetzt.

Das Stadion fasst knapp 11.000 Zuschauer, es wirkt aber größer. Nicht alle Fans haben noch ihre Shirts an, als das Spiel sich dem Ende nähert. Glück hat die Eintracht, als ein Tor Helsinkis nicht gegeben wird, hinter uns brüllt jemand „Hauge Hurensohn“. Mit Ach und Krach schleppt sich die Eintracht zum mühsamen Auswärtssieg gegen HJK Helsinki, deren Saison schon beendet ist. Immerhin, da sich Saloniki und Aberdeen 2:2 trennen, steht die Eintracht als erstes deutsches Team überhaupt in der nächsten Runde. Wir feiern die Mannschaft, die Mannschaft feiert uns, zum ersten Mal mit Elias Baum, der zu seinem allerersten Profieinsatz überhaupt kam. Durch das sich langsam leerende Rund erklingt „Im Herzen von Europa“. Als die ersten Töne von „Mexico“ ertönen, brechen wir die paar Meter zum Ausgang, der natürlich noch verschlossen ist, auf. 15-20 Minuten sollen wir warten, eine Reihe Ordner steht vor den Gittern, einer wird mächtig bepöbelt und bleibt stoisch. Die Zeit verrinnt ohne eine Info, alsbald wird weiter hinten am Gitter gerüttelt, erste Tritte, die Ordner verziehen sich, das Tor springt auf, und die Menge schiebt sich Richtung des offenen Tores, geistesgegenwärtig werden weitere Tore geöffnet. Weshalb dies nicht schon vorher geschah erschließt sich mir ebenso wenig wie die mangelnde Geduld einzelner. Immerhin strömen wir ins Freie. Rechts versperrt die Polizei den Weg, warum auch immer, doch da wir ohnehin nach links müssen, setzten wir uns in Bewegung, treffen Kathrin und wandern weiter Richtung Straßenbahn. Seitenstraßen werden von der Polizei abgeriegelt – es wirkt ebenso martialisch wie nutzlos.

Wir sind müde und durchgefroren, verpassen unsere Haltestelle, verabschieden uns von unseren Mitstreiterinnen und wandern hoch in die Töölöngatu 26. Der Aufzug bringt uns zackig nach oben. Auswärtssieg! Dennoch gehen mir (betrunkene) aggressive Männer jeglicher Couleur mächtig auf die Nerven. Das Spiel fand übrigens am 9. November statt. An jenem Tag vor 85 Jahren starrte der kleine Helmut „Sonny“ Sonneberg auf die brennende Frankfurter Synagoge. Heute erinnerte nichts daran.

Der nächste Morgen beginnt regnerisch, die Fahnen hängen auf Halbmast und ich besorge Croissants. Wir frühstücken zuhause und nehmen anschließend die Bahn Richtung Felsenkirche und werfen einen Blick in die in Granit gebaute Kirche und fahren weiter zum Senatsplatz. Dort gegenüber befindet sich das Stadtmuseum – wir können unsere Klamotten in einem Schließfach verstauen und uns trockenen Fußes die Ausstellung anschauen. Nette Blicke in die Alltagskultur Helsinkis, Kneipe, Hinterhöfe, Wohnzimmer. Weiter oben dreht sich derzeit alles um Fitness. Wir trinken im Museum einen Kaffee, es regnet. Unser Plan, mit der Straßenbahn eine große Runde zu drehen, wird dadurch vereitelt, dass heute die Beerdigung des ehemaligen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari im Dom stattfindet – und die Bahnen derzeit nicht fahren, die Straßen sind abgesperrt, die Bähnchen kommen nicht durch. Wir laufen vor zum Glaspalast, fotografieren die Neonreklame und entscheiden uns für eine U-Bahnfahrt Richtung Lauttasari, rollen gigantische Treppen nach unten und wieder nach oben – und fahren wieder zurück. Es ist ungemütlich, wir fotografieren Neonlichter, drücken uns die Nase am Moomin-Shop platt und fahren mit den nun wieder rollenden Straßenbahn Richtung Töölö. Es regnet. Dennoch treibt es uns abends noch einmal raus, wir fahren zum Olympiaterminal, welches nun schon nächtlich beleuchtet geschlossen hat und drehen mit der Linie Zwei, die hier zur Drei wird noch eine Runde durch Kallio und passieren unsere alte Wohnung. Draußen geht das finnische Leben seinen stoischen und unaufgeregten Gang. Keiner drängelt, niemand hupt, es ist so angenehm, dass es mich ein bisschen vor der deutschen Stadtaggression graut, wo es nach drei Minuten plärrt: NEUE KASSE oder dir ein Wichtigtuer hinterherruft: SIE HABEN ABER KEIN LICHT. Oder wieder einer irgendwo rein drängelt. Sicher, Finnland resp. Helsinki ist kein Paradies, hier leben schließlich Menschen. Aber zum wiederholten Mal stelle ich fest: Viele freundliche.

Am Abreisetag besorgen wir uns noch ein paar Souvenirs (Little My von den Moomins hat es Pia angetan), wandern an der Bibliothek vorbei und umrunden ein letztes Mal den Töölönsee. Als wir zuhause ankommen, regnet es wieder. Da wir noch ein bisschen Zeit haben, checken wir aus und fahren runter zur Esplanade Richtung Designmuseum. Auch hier können wir unser Gepäck verschließen und uns trockenen Fußes die Zeit vertreiben, dann geht es auf ein Lachssüppchen in die Markthalle und von dort zum Bahnhof. Der Zug auf Gleis drei bringt uns wie auch Gerhard und Thor binnen 30 Minuten zum Airport, dort treffen wir auf Roman und Vincent samt Freundin und so verrinnen die letzten Minuten in Helsinki. Der Flieger ist bis auf den letzten Platz besetzt, mit einiger Verspätung heben wir ab und landen gegen 20 Uhr wieder in Frankfurt. Die S9 bringt uns zur Konsti, die Linie 18 zur FH. Dann klappern unsere Rollkoffer wieder durchs Nordend. Es ist spät geworden und dunkel dazu. Wohl dem, der/die eine warme Wohnung hat.

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