Noch einmal stehen Menschentrauben an der Ecke Rohrbachstraße/Rothschildallee im Frankfurter Nordend, in der Hand ein Bier oder einen Becher Apfelwein. Gude hier, Gude da. Drinnen legt Niko Platten auf. Im Backstage oder besser New Backstage, wie die Fußball- und Schnitzelkneipe in den vergangenen Jahren hieß. Seit sie Silke von Norbert übernommen hatte, das müsste in den Monaten nach der WM 2006 gewesen sein.
Anfang der Neunziger Jahre eröffnet, lernte ich das Backstage Mitte des Jahrzehnts kennen. Damals schlug ich mir die Frankfurter Nächte im Taxi um die Ohren, saß in einem Wagen der Zentrale 33. Wir galten als die moderne Variante, weltoffener als die große 01er. Fuhren oft die coolen Locations an, die Bars und Clubs der Schwulen- und Lesbenszene, die Unkonventionellen. Und so marschierte ich eines Nachts auch ins Backstage und holte meine Fahrgäste ab, oft Musiker oder deren Freunde und Bekannte.
Damals trank ich über Jahre hinweg keinen Alkohol und wohnte in Oberrad, war folglich auch nur höchst selten privat in Kneipen anzutreffen – und schon gar nicht mehr im Nordend. Ein paar der Leute, die zu mir ins Taxi stolperten, kannte ich vom Sehen, aus dem Café Läuft ein paar Schritte nebenan. Das Läuft ist später umgezogen und schloss eines Tages seine Pforten für immer. Das Backstage aber blieb und hielt die Stellung im immer stärker gentrifizierten Nordend. Bis ich eines Tages selbst zu einer Art Stammgast wurde. Über die Eintracht hatte ich zu Beginn der 2000er Jahre binnen kürzester Zeit für meine Verhältnisse unglaublich viele Leute kennen gelernt, 2004 trank ich nach 10 Jahren auch wieder meinen ersten Apfelwein – in der Bembelbar, die damals nach Spielen der Eintracht in der Klapper 33 ihre famosen Abende zelebrierte. Und so verschlug es mich immer häufiger aus meinem beschaulichem Oberrad, aus dem Frankfurter Stadtwald ins lebendige Frankfurt. Und in dieser Zeit auch ins Backstage. Es wurde geraucht und getrunken, gebabbelt und auch mal geknutscht. Charlie, der um die Ecke wohnt und unglaublich viele skurrile Platten besitzt und zudem ein unfassbar netter Kerl ist, legte dort zuweilen Platten auf, Jens, der uns auch am 17. Juni 2022 souverän mit Getränken versorgte, grinste dich immer an, wenn du spät am Abend dort aufschlugest. Noch wurde die Kneipe von Norbert geführt, der immer mal mit mit krudem blauem Schnaps (WC-Ente) vorbei kam – oder eine Runde Jägermeister auf die Tische stellte. Den Sommer 2006 verbrachten wir nahezu komplett im Backstage, schauten die Spiele der Weltmeisterschaft, es waren heiße Tage – in jeglicher Hinsicht. Nur das Essen war in den letzten Tagen unter seiner Führung eine Katastrophe, einmal wurde mir sogar schlecht. Folglich spazierte ich bei Hunger rüber zum damals in der Rohrbachstraße existierenden Thai, um anschließend wieder im Backstage zu trinken. Einige Monate später bestellte ich mir dann doch wieder einen Teller Pommes vor Ort – und selbst die waren versalzen. Mittlerweile hatte ich Pia kennen gelernt, die um die Ecke wohnte, und so landeten wir immer häufiger dort.
Als Silke den Laden übernahm, behielt sie die wilde Struktur bei, änderte behutsam einige Kleinigkeiten und fortan konnte man im Backstage auch wieder fabelhaft futtern. Cheeseburger für den kleinen Hunger, Schnitzel für den Großen. Jürgen Grabowski im lebensgroßen Starschnitt blickte dich von der der Seite an, Joe Strummer, umrankt von wilden roten Rosen, von der Rückwand. Und aus den Boxen blubberte immer Social Distortion.
Manchmal guckte wir dort auch die Eintracht, der Laden war stets proppevoll, wobei ich in der Regel selbst im Stadion verweilte. Als wir unseren EFC Schwarze Bembel gründeten, erkoren wir das Backstage zu unserer Stammkneipe, hockten jeden ersten Montag im Monat bei einem Schoppen, den wir aus unserem echten schwarzen 12er Bembel tranken – und tagten bis tief in die Nacht. Gabi oder Siggi schlossen irgendwann die Türen ab und wir wankten später durch die Hintertür in die Dunkelheit. 2008 hatten wir sogar den ganzen Laden für uns, EFC Weihnachtsfeier mit Freunden. Es gab hessische Tapas, Apfelwein und Bier – Stargast war seinerzeit Michael Thurk.
Auch für die WM 2010 wurde das Backstage unser Zuhause. Nachmittags wurden fleißig Panini-Bildchen getauscht, der kleine Garten an der Allee zeigte sich buntgeschmückt, es müsste der Sommer gewesen sein, in dem ich mit dem Ergänzungsspieler oben von Silkes Wohnung aus vor den Spielen eine kleine alberne Pre-Match Show veranstaltete, die unten auf den Fernsehern gezeigt wurde. Fußball, Schnitzel, Rock und Roll. Mal kamen wir spät in der Nacht von einer Auswärtsfahrt nach Hause, wuchteten in der Dunkelheit Getränke aus dem Bus in den Keller, mal trank ich mit Daniel bis tief in die Nacht Wodka und Apfelwein. Einmal legte ich sogar selbst dort Platten auf, nach einem Konzert der Ding Dong Daddies, bei denen Tom spielte, der seit damals auch immer wieder mit der Bembelbar für ein Gastspiel ins Backstage zog. Mittlerweile wohnte ich ja auch um die Ecke, der Heimweg war überschaubar. Die Fanabteilung der Eintracht rief einmal im Monat zum informativen Austausch – und wir bequatschten die heißen Themen rund um die SGE mit hochroten Köpfen.
Silke führte den Laden mit rauer Herzlichkeit, doch das Konzept, niedrigpreisig, Fußball, Rauchen, Essen, Musik wurde im Laufe der Jahre stets harten Prüfungen unterzogen. Klar, immer wieder standen Charlie, John, Niko, Ergänzungsspieler, Stift und viele andere an den Plattentellern, es wurde getanzt und gefeiert, doch ein erster Hieb kam mit dem Rauchverbot in Gaststätten, in denen auch Essen ausgegeben wurden. Zwar konnte man auch weiterhin im Backstage rauchen, von nun an allerdings nur im hinteren Bereich. In der ersten Zeit stand die Tür nach vorne auch immer offen, vor allem für die Bedienungen ein Segen, da sie Getränke und Speisen ohne Probleme nach hinten bringen konnten. Eines Tages hatte sich jemand beim Ordnungsamt beschwert, mit der Konsequenz, dass die Zwischentür nun geschlossen werden musste. Dies hatte zur Folge, dass von da an, jeder Gang nach hinten mit einem Öffnen der Tür verbunden war – mit vollem Tablett ein Albtraum. Und im Winter bedeute dies, dass der Raucherraum derartig verqualmt war, dass es nicht nur für Nichtraucher eine Zumutung wurde, sich dort aufzuhalten. Die Raucher gingen dann hin und wieder für ein Kippchen nach hinten oder draußen, was natürlich vorne die Gruppen sprengte, kurz, es wurde ungemütlicher. Dennoch hielten die Stammgäste dem Backstage weiterhin die Treue. Auch wenn ein paar Schritte weiter unten das Feinstaub seine Pforten öffnete, das eine ähnlich Klientel anzog. Unkonventionell, ohne Firlefanz, freundlich. Als sich das Gudes dann am Matthias Belz Platz etablierte, hatte das Nordend sein Bermuda-Dreieck.
Über all die Jahre blieben die Preise stabil. Kurzzeitig öffnete das Backstage auch tagsüber die Türen, doch das Konzept „Morgens Café, abends Rock und Roll“ ging nicht ganz auf, der Laden war zu sehr mit dem Nachtleben verquickt, tagsüber gingen die Leute ins Kardamom oder die anderen Cafés in der Glauburgstraße. Derweil wurden die Fußballübertragungen seitens der Rechteinhaber immer teurer. Das New Backstage, wie es nunmehr hieß, hielt mit Tatort-Sammelglotzen dagegen.
So zogen die Jahre ins Land, bis Covid dem bekanntem Leben ein Strich durch die Rechnung machte. Nicht nur, dass die Kneipen dicht machen und sich wie das Backstage mühsam mit Außerhausverkauf über Wasser halten mussten, auch die Rechnungen für Fußballübertragungen erreichten aberwitzige Höhen, zumal nunmehr mehrere Sender die Hand offen hielten. Und so entschied sich Silke 2021 schweren Herzens auf Fußballübertragungen der Eintracht zu verzichten. Ich hatte aber in den letzten beiden Jahren seit Ausbruch von Corona keine einzige Kneipe von Innen gesehen, sieht man einmal von zwei nächtlichen Ausnahmen ab. Zwischendrin hatte das Feinstaub gemeinsam mit dem Backstage und befreundeten Bands einen Soli-Sampler produziert: One City – One Crew, der das Überleben beider Institutionen zu sichern helfen sollte.
Eines Abends standen wir mit Niko bei einem Schöppchen unter freiem Himmel zusammen und erfuhren die traurige Nachricht: Das Backstage macht zu. Zwar gab es zunächst Ansätze, die Kneipe im Konzept mit einem anderen Betreiber weiter zu führen, doch aberwitzige Mietvorstellungen machten diese Pläne zunichte. Und so kam, was kommen musste: Die Tage des Abschieds rückten näher. Fünf Tage oder besser Nächte wurde der Abschied zelebriert, der Abschied einer Kneipeninstitution, die Frankfurt und das Nordend über Jahrzehnte geprägt hatte. Wollte jemand wissen, wo man in Frankfurt die Eintracht gucken kann, lautete die Antwort stets: Im Backstage.
Diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei. Am Sonntag, den 19. Juni schlossen die Türen für immer. Wahrscheinlich wird einer der 0815-Italiener in die Räume einziehen, Carbonara für 12 Euro, oder eine Shisha Bar, irgend ein Laden, der die geforderte Miete zahlt und sich das Geld von den nunmehr wohlhabenderen Kunden wieder rein holt. Vielleicht wechselt der Mieter auch alle paar Wochen. Und stets wenn, wir von nun an auf dem Heimweg an der Ecke Rohrbachstraße/Rothschildallee vorbei laufen, werden wir murmeln: Da war früher das Backstage.
Danke Norbert, danke Silke und die Crew für alles. Für die vielen lustigen Abende und Nächte. Backstage, du wirst uns fehlen. Mach‘s gut!
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