Unterwegssein. Bewusstes Erleben der Vergänglichkeit – im besten Falle. Vielleicht war es das, was mir in der Hochphase von Corona am meisten gefehlt hat, das Vorbeigleiten der Zeit, angefüllt mit Momentaufnahmen eines Daseins, das so schnell vorbei ist – angereichert mit Erinnerungen, einem „Weißtdunoch“, bunte Zeitkleckse im ewigen Werden.
Die Fahrt von Kiew nach Charkiw im Zug, das gemächliche Tuckern von Ranong nach Koh Payam im „Normal Boat“ durch die andamanische See, die Fähre von Helsinki nach Tallinn an einem heißen Sommertag, mit dem altersschwachen Mercedes, der mehr Öl als Diesel verbrauchte, den Atlantik entlang bis zur Südwest-Spitze Europas am Cabo Sao Vincente in Portugal. Mit dem Wanderstock durch den Spessart, der alten Honda XL 500 nach Odeceixe, die Mitfahrgelegenheit nach Tübingen oder dem Bus von Faro nach Sevilla. Dem TucTuc von Thiruvananthapuram nach Varkala durch rotstaubige Straßen Indiens. Mit dem Roller durch Sifnos. Irgendwo liegt immer ein Ankommen. Das Zwischendrin als Seinsszustand. Der Blick aus dem Fenster, vorbeiziehende Miniaturaufnahmen des Lebens, eingefrorene Momente des Unvergesslichen.
Seit dem ersten Juni gilt in Deutschland das 9-Euro-Ticket, mit dem du einen ganzen Monat lang mit vielen öffentlichen Verkehrsmitteln durch Deutschland reisen kannst. Natürlich nicht mit den schnellen, eleganten. Natürlich nicht in der ersten Klasse, dem Privileg derer, die es sich leisten können. Zeit und Raum muss man sich immer leisten können. Zeit auf Kosten von Geld, Raum auf Kosten der anderen. Von daher ist die Forderung nach Abschaffung der Klassengesellschaft eine, die an Gültigkeit nichts verloren hat. Im Leben – wie in der Bahn oder im Flugzeug, wobei man den lieben langen Tag fordern kann. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“, schrieben Marx und Engels einst – und sie ist noch nicht zu Ende.
Früh am Morgen des ersten Juni landete das 9-Euro-Ticket in meiner RMV App und da meine Schwester mich anlässlich ihres Geburtstages zum Essen in einer Pizzeria nach Kleinostheim eingeladen hatte, ließ ich den Dacia und meinen Roller brav zuhause stehen und spazierte bei strahlendem Sonnenschein zur Straßenbahn-Haltestelle in die Rohrbachstraße. Zuerst rasselte die 12 an, auch die 18 hält ja derzeit bei uns ums Eck, das ist ganz praktisch, da Letztere bis zum Südbahnhof fährt. Ich zog mir eine Maske übers Gesicht, ratterte mit der 12 zur Konsti, stieg dort in die 18 um und verließ diese am Lokalbahnhof. Von dort sind es nur ein paar Schritte in die Brückenstraße, in der ein kleines portugiesisches Ladengeschäft Galao und Rissois anbietet. Ich hatte Zeit. Bzw.: Ich habe sie mir genommen. Das ist ja auch ein Übel, diese selbstgemachte Hetze, der Glaube, in möglichst kurzer Zeit schnell irgendwo hin zu kommen, wobei alle anderen im Weg sind. Manchmal muss man auf die imaginäre Bremse treten, alles an sich vorbei ziehen lassen – um dann entschleunigt und entspannt vorwärts zu kommen. Die anderen sind keine Feinde mehr, sie sind Menschen, die ebenfalls unterwegs sind – mit all der Last ihrer Jahre, die die Zeit in ihr Gesicht gefräst hat, die Körper und dessen Haltung formten. Möge die Übung gelingen.
Am Südbahnhof keine Zeichen von Hysterie. Außer bei mir, der zunächst runter zur U-Bahn marschiert, um anschließend festzustellen, dass mein Zug von den Gleisen oben abfährt. Brav stelle ich mich ans Gleis, der Zug Richtung Würzburg wird schon auf der elektronischen Anzeigetafel angekündigt. Als er einige Zeit später noch nicht da ist, checke ich die App. Jetzt wird mir ein anderer Zug vorgeschlagen, Abfahrt 20 Minuten später. Gleis 8. Verwirrung macht sich breit, ich wandere die Stufen nach unten, am entsprechenden Gleis wieder nach oben. Da steht es: Abfahrt RB 58 nach Laufach. Der erste Zug rollt, nachdem er kurzzeitig von der elektronischen Bildfläche verschwunden war und nun wieder angekündigt wurde, mit 15-minütiger Verspätung ein – und ohne mich wieder ab. Ich warte auf Gleis 8, mit mir steht dort nur eine handvoll Menschen, ich fühle mich dezent an eine Europapokalreise erinnert. Der RB 58 ist pünktlich, ich erhasche einen Platz am Fenster Richtung Fahrtrichtung und wir legen ab. Fahren über Frankfurt Ost, Mainkur und Maintal Richtung Hanau. Keine besonderen Vorkommnisse, außer dass ein nicht mehr ganz so junger Mann die Bahn mit seinem Office verwechselt, seine Gesprächspartnerin auf Laut gestellt und wichtige Dinge zu klären hat. Ich nehme mir vor, das nächste Mal die Texte zu protokollieren und rolle über Hanau und die Rückertsbacher Schlucht nach Kleinostheim. Damit sind meine 9 Euro für das Ticket schon wieder drin. Auch der Rückweg ist unkompliziert. Kaum bin ich wieder am Bahnhof gelandet, rollt die Bahn ein, ich sprinte zum richtigen Gleis – und sitze diesmal mit dem Rücken am Fenster und schaue mir die gegenübersitzenden Fahrgäste an. Das beste am Bahnfahren ist es jedoch, den Blick aus dem Fenster auf die Miniaturwelt draußen zu werfen, die Graffiti, die Gebäuderückseiten, die Schrebergärten, das Gleisgewimmel an größeren Bahnhöfen, die wartenden Autos an den Schranken. Überall lauern Geschichten, die nie erzählt werden. Die 18 bringt mich wieder nach Hause.
Da das Ganze recht gut geklappt hat, beschließen wir, auch am Samstag die Bahn Richtung Aschaffenburg zu nehmen, ein Familienfest steht an. Wieder rasselt die 18 in Richtung Südbahnhof, vorbei am Haus mit der Friedenstaube auf der Wandrückseite, vorbei am kleinen Thai in der Dreieichstraße. Knapp bekleidete junge Menschen sitzen mit uns in der Straßenbahn, unverkennbar wird sie der Weg ins Stadion führen. Dort spielt heute jedoch nicht die Eintracht, vielmehr wird das Gelände mit elektronischer Musik beschallt. Die ersten Klänge tönen durch die Bahn. Wir lassen am Südbahnhof die Techno-Jünger hinter uns und spazieren zu den Gleisen. Die Regionalbahn ist fast pünktlich, wir sitzen und ich schaue rücklings aus dem Fenster. Das finale Ziel ist Bamberg – dort waren wir vor ziemlich genau 10 Jahren einmal, auf dem Rückweg aus der fränkischen Schweiz. Soweit geht es heute nicht. Über Hanau erreichen wir den Aschaffenburger Hauptbahnhof. Zwanzig Minuten später sitzen wir im Bus nach Nilkheim und fünf Minuten danach in einem Garten und trinken Apfelwein. Zurück geht es mit meinen Eltern im Auto bis nach Dietzenbach. Dort warten wir auf die S-Bahn, die mit zwei-minütiger Verspätung anrauscht. Als wir einsteigen, fällt auf, dass Masken hier nicht unbedingt ein Must Have sind. Hinter uns telefoniert jemand, die nackten Füße auf dem Sitz. Offenbach. Konsti. 18. Ein junger Mann hat Ärger mit seiner Freundin, wir können das Gespräch hautnah verfolgen, geben aber keine Verhaltenstipps. Muss er selbst sehen, wie er mit ihr klar kommt.
Wir hingegen haben Blut geleckt, früh am nächsten Morgen machen wir uns auf die Socken. Unser Ziel: Bamberg. Erneut bringt uns die 18 zum Südbahnhof, der Main-Spessart-Express, RE 55, wartet schon, es herrscht reger Betrieb – aber wir finden zwei Sitzplätze nebeneinander, leider nicht mit direktem Blick aus dem Fenster. „Auf Grund eines Maskenverweigerers verzögert sich die Abfahrt auf unbestimmte Zeit“ klingt es aus den Lautsprechern des Zuges. Und so ist es auch, zwanzig Minuten später stehen wir immer noch. Unser Gegenüber, ein Herr mittleren Alters, tätig im Gastronomiegewerbe, zeigt dafür nur bedingt Verständnis. Er murmelt etwas von „Diktatur“ und beginnt ein Gespräch über den Unfug von Masken und gefälschten Zahlen von Bettenbelegungen. Ich lasse die Worte an mir abperlen, drehe meinen Kopf und versuche aus dem Fenster zu schauen. Immerhin trägt mein Gegenüber eine Maske, an ihm liegt es nicht. Die Zugbegleiterin, rauscht durch die Waggons, zeigt sich leicht genervt und weist einen jungen Mann darauf hin, die Maske ordentlich aufzuziehen. Eine Bitte, der der Kamerad nachkommt, obgleich er an einem Kaffee nuckelt. Mein Gegenüber will zum großen Palaver ansetzen, die Zugbegleiterin lässt sich davon nicht beeindrucken und rauscht wieder ab. Dann rollt auch der Zug an, mit 25-minütiger Verspätung geht es nun in Richtung Oberfranken. Pia liest, ich höre mir über Kopfhörer ein Hörbuch an. Mit jedem Halt stolpern ein paar mehr Leute ein den Zug. Irgendwo vor Hanau setze ich mich eine Reihe nach unten und kann aus dem Fenster schauen. Eine adrette Familie mit zwei Kindern steigt dort zu und findet, wie einige andere auch, zunächst keinen Sitzplatz. Blicke fliegen hin und her, Möglichkeiten werden erwogen und wieder fallen gelassen. Grüne Hecken umsäumen die Gleise, während wir dahin rollen. In Aschaffenburg kommt noch einmal Bewegung in die Sache. Zunächst verabschiedet sich der Grantler vom Südbahnhof recht freundlich, dann wird es verhältnismäßig voll. Die Familienkinder haben derweil einen Sitzplatz gefunden und daddeln auf ihren Handys. Andere stehen im Gang. Aber der Zug ist nicht rappelvoll. Ein älteres Ehepaar scheint ständig auf dem Sprung zu sein, Unruhe blitzt in ihren Augen. Wir fahren durch den grün behügelten Spessart, passieren Gemünden und landen letztlich in Würzburg. Dort leert sich die Bahn rapide. Wir nutzen die Gelegenheit und setzen uns an einen Vierer-Tisch mit wunderbarem Fensterblick und rauschen durchs schöne Frankenland. Das Handy hängt an der Steckdose. Trotz des längeren Aufenthaltes in Würzburg sind wir wieder exakt in der angegebenen Zeit. Haßfurt und Schweinfurt heißen die letzten beiden Stationen vor Bamberg, Endstation, alles aussteigen. Oktoberfestartig gewandete Menschen kommen uns entgegen, in der Hand einen Bierseidl. Pfingstsonntag in Oberfranken. Wir besorgen uns in einem Bahnhofscafé einen Bahnhofscafé und spazieren auf den Vorplatz. Hallo Bamberg.
Wir treiben durch die weitgehend von Kriegsschäden verschont gebliebene Stadt, essen Bratwürste, trinken Schlenkerla und blicken von der Brücke am alten Rathaus auf den Arm der Regnitz. Weiter hinten liegt Klein-Venedig. In Frankfurt regnet es, hier scheint die Sonne. Die Aufführungen von Romeo & Julia werden erst in ein paar Wochen in der Alten Hofhaltung über die Bühne gehen, von daher wandern wir über ein Brückenlabyrinth an die Stelle an der Regnitz, von wo eine Seilfähre in den Sommermonaten Passagiere ans andere Ufer bringt und beobachten das rege Treiben. Alsbald ruft die Rückfahrt. Zuvor gönnen wir uns noch ein Eis (Waldmeister) und spazieren gemütlich zum Bahnhof. Schon vor der Zeit wartet die Bahn am Gleis, wir setzen uns wieder an einen Vierer-Tisch. Pia packt ihr Buch aus, ich stöpsel mir die Kopfhörer in die Ohren und schon rauschen wir los. Leichter Sommerregen klopft ans Fenster. Kurz vor Schweinfurt nicke ich ein und bemerke gar nicht, dass wir in Würzburg nicht anhalten. Im Regionalexpress ist noch massig Platz, die Fahrt ist unspektakulär, sieht man einmal davon ab, dass das Grün des Spessart zu Wanderungen einlädt. Später rollen wir an Oberrad vorbei, meiner alten Heimat – und rattern mit der 18 vom Südbahnhof ins Nordend. In der Bahn erkennen wir den jungen Mann wieder, der sich gestern mit seiner Freundin gestritten hatte, diesmal steigen beide gemeinsam aus. Geht doch. Als wir die Haustüre aufschließen, fühlen wir uns, wie nach einem Urlaubstag. Unterwegssein. Erleben.
Fazit: Das 9-Euro-Ticket ist eine feine Sache, wenn man ein wenig Geduld und Zeit mitbringt. Vor allem für diejenigen, die sich das Unterwegssein sonst nicht leisten können. Viele kennen das ja nicht, sich unbeschwert an Reiseplanungen zu machen, kleine Träume zu träumen, sich ein bisschen Urlaub vom Alltag zu nehmen, auf andere Gedanke zu kommen. Für viele sind solche vermeintliche Selbstverständlichkeiten alles andere als selbstverständlich. Wenn das Unterwegssein zu teuer ist, bleibst du zuhause und wirst missmutig – von daher ist das Ticket ein kleiner Ausweg in Richtung Freiheit. Und klimaschonend noch dazu. Man sollte es beibehalten.