Es versprach ein heißer Tag zu werden. Der 18. Mai 2022, der Tag des Endspiels um den Europacup. Sevilla erwachte. Ich saß mit einem Tee in der Hand auf der Dachterrasse und war mir der historischen Chance bewusst. Dennoch war da etwas, dass mich diesen Gedanken nicht wirklich begreifen ließ. Die Realität und meine Seinswahrnehmung liefen asynchron. Der Gedanke, dass die Eintracht tatsächlich den Uefa-Cup holen kann, schien in meiner Welt zu absurd.
Wir brachen auf zum Frühstück. Pia hatte ein kleines Café ausbaldowert, doch zuvor versuchten wir Ordnung in die Orientierung zu bekommen. Ein paar Mal bin ich schon die Wege rund um unsere Unterkunft abspaziert, doch stets brauchte ich irgendwann mein Navi. Entweder ist Sevilla recht unübersichtlich oder aber in mir schwelte eine Grundverwirrung, die mich durch die Gassen kreiseln ließ. Gestern Abend, bevor wir zum Abendessen aufgebrochen sind, hatte ich noch einen Rundgang gemacht, bei dem ich auf der Suche nach einem Supermarkt in unserem Viertel eigentlich dachte, ich hätte die Wegführung begriffen. Davon konnte heute keine Rede mehr sein. Immerhin lagerten nun im Kühlschrank ein paar Dosen Bier, eine Fanta und Wasser. Nur eine rote Sonnenbrille war nicht aufzutreiben. Auch nicht in dem klimatisierten Großkaufhaus in der Nähe des Treffpunktes der Schotten, die auch jetzt in Scharen unterwegs waren und die Plätze bevölkerten. Der Durchschnittsschotte, so scheint es, ist männlich, ca 175 cm groß, mehr oder minder übergewichtig, trägt Trikot wie Tattoos, aber dafür keine Haare. Und jedes dritte Wort ist fucking. Und sie waren friedlich. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem wir wieder in Faro landen sollten und die blau-orangene Invasion hinter uns ließen, habe ich kein einziges unfreundliches Wort vernommen. Pia verwies auf einen kleinen Markt, ich spazierte hinein – und entdeckte tatsächlich eine rote Sonnenbrille. Nicht ganz so wie meine alte, sie war ein bisschen größer – aber für 3,50 Euro nahm ich sie mal mit. Ein Anfang war gemacht. Keine fünf Minuten später schob mich meine Intuition in einen weiteren Markt, auch dieser geführt von asiatischen Spaniern. Und da hing sie. Meine Sonnenbrille. Exakt wie mein altes Modell. Gleiche Größe, gleiche Farbe, gleiches Lichtbild. Drei Euro wollte die Verkäuferin dafür haben, die ich ihr gerne in die Hand drückte. Sie schnitt das Etikett ab, ich setzte die Brille auf die Nase und grinste Pia an, die draußen gewartet hatte. Sie verstand nicht so recht, weshalb ich sie so anstrahlte, bis ihr auffiel, dass ich nicht die zuvor erworbene aufhatte, sondern eine andere. Da grinste sie mit.
Leider war das von ihr ausgewählte Café auf allen Plätzen sowohl außen als auch im Innenbereich besetzt, was angesichts der Massen, die in der Stadt ihr Unwesen trieben, auch nicht wirklich überraschend kam. Immerhin konnte wir ein paar Meter daneben ein weiteres ausfindig machen, in dem wir innen Platz fanden. Drei Junge Leute waren eifrig beschäftigt, die Kunden zu bedienen, und alsbald stand auf unserem Tisch im mo.ma frisch gepresster Orangensaft, Croissants und kleine Pastels, die an die portugiesischen Pasteis de Nata erinnerten. Dazu gab es einen Toast mit Jamon, für Pia einen mit Käse, sowie Café con Leche. Anschließend setzten wir uns zu einem Rundweg um die Kathedrale in Bewegung, und, immerhin, trafen auf etliche Frankfurter. Auch Uwe Bindewald, Alex Schur und Ervin Skela, die Aufstiegshelden von 2003 schlenderten samt Anhang durch die Gassen, wir freuten uns und schwatzten eine Weile, bis wir uns lachend trennten. Pia besorgte sich in einem Souvenirshop eine dieser schön bunten Tellerknoblauchreiben, ich ein blaues Olivenkeramikschälchen, auf dem „Sevilla“ stand. Beim Hinaustreten liefen wir Thomas in die Arme, der mit seinem Sohn unterwegs war und in der Hand einen zusammengerollten Finalschal trug. Wo er diesen her habe, fragte ich und er verwies auf fliegende Händler rund um die Kathedrale. Ich rollte den Schal auf, um zu überprüfen, ob da nicht vielleicht Eintacht oder Fankfut oder so etwas stand, aber sowohl die Clubnamen als auch das Datum stimmten und so nahm ich mir vor, solch ein Souvenir ebenfalls zu erwerben. An der Kathedrale selbst, machte sich eine Dolores oder Carmen mit pechschwarzem Haar, schwarzem Oberteil und rotem Kleid bereit für eine Flamenco-Performance. Und da genau dies auch die Eintrachtfarben sind, machte ich mir über den Spielausgang immer weniger Sorgen, zumal meine neue Sonnenbrille ebenfalls ein deutliches Zeichen war, dass heute alles gut ausgehen würde. Weiter unten trafen wir auf Andy und Dirk, einen Tisch dahinter saß Guido beim Mittagstisch. Alle drei langjährige Gefährten, auch und vor allem in einer Zeit, in der die Eintracht am Boden lag. Andy und Guido hatten damals die Fanabteilung mitgegründet, mit Andy und Dirk haben wir einige Jahre eintrachtfans.tv gemacht, später zogen wir mit den Winterreisen der Fan geht vor stets im Januar durch Europa, ob Athen, Porto, Rom, Barcelona oder Istanbul. Meist schauten wir uns Spiele der heimischen Liga an, während die Eintracht gerade abstieg oder aufstieg oder um den Klassenerhalt kämpfte. Man erinnerte sich damals an europäische Reisen mit der Eintracht, wie man sich an eigene Kindergeburtstage erinnert, als Teil einer Vergangenheit, die unwiederbringlich verloren scheint. Heute trafen wir uns wenige Stunden vor Anpfiff des Finales in Sevilla. Es schien uns fern allem Möglichen, wie ein Traum im Traum. Später kaufte ich einem fliegendem Händler noch einen Schal ab.
Wir taperten weiter durch die Hitze, überquerten eine weitere Brücke, nahmen an der Kirche Santa Ana noch einen Milchkaffee und wanderten über den Plaza de Armas zurück in die Unterkunft. Langsam wurde es ernst. Die ersten Tagesflieger waren gelandet, eine Angelegenheit, die ja auch nicht ganz unproblematisch vonstattenging, zig Flieger mehr als üblich erhoben sich gen Sevilla in die Luft, einige zu früh, andere zu spät, manche über Malaga, andere direkt, ein buntes Tohuwabohu, verbunden mit einer Aufregung der Reisenden, die peu a peu in Andalusien eintrudeln sollten. Wir hockten frisch geduscht im Schatten des Schirmes auf unserer Dachterrasse, überlegten, was wir zum Spiel anziehen sollten und hofften, dass der Einlass mit den digitalen Tickets auch wirklich klappt. Denn in Wirklichkeit hatten wir noch gar keine Tickets, wir hatten eine Option, die am Einlass über Bluetooth und Netzverbindung freigeschaltet werden sollte. Also hingen jetzt im Moment wahrscheinlich 40.000 Handys an den Ladestationen in Sevilla, damit der Akku heute Abend noch genügend geladen sein wird, um ins Stadion zu kommen. 65 Euro hatten wir jeweils für die Tickets bezahlt, direkt über die Eintracht, also safe sollten sie sein. Einerseits sollten wir froh sein, überhaupt ein Ticket zu bekommen – andererseits gab es massig Einladungen sowie 4000 Freikarten für das Spiel, die natürlich an uns vorbei gingen. Wie immer. Wenn es um die Verteilung von Bonbons geht, heißt es für mich: Hinten anstellen. Das ist auch Teil meines Schicksals. Anerkennung und Beifall bekomme ich zuhauf, dafür bin ich euch auch sehr dankbar. Für die vielen lobenden Worte, sei es ob meiner Texte, ob der Art und Weise, wie wir die kleine Waldtribüne inszenieren, für Veranstaltungsmoderation – auch damals als Stadionsprecher der Eintracht Amateure oder als EFC-Vorsitzender. Fast überall, wenn ich unterwegs bin, ruft früher oder später irgendjemand: Beve. Wenn es aber um die Verteilung der Goodies geht, die satt machen, stehe ich irgendwo am Rand und schaue in die Röhre. Immerhin gibt es aber auch die Stefans und Steffens, die Ingos und Ninas, die zuweilen an uns denken, auch das ist nicht selbstverständlich, da sie im Gegensatz zu anderen, dies nicht müssten. Dafür ein herzliches Dankeschön. Aber gelernt habe ich in all dieser Zeit, dass Widerworte und offene Aussprache selbst bei denen Unbill hervorrufen, die „Haltung“ als Monstranz vor sich her tragen. Und ich werde einen Teufel tun, mich dem anzupassen. Nicht aus einer dubiosen Haltung heraus, für die man leicht Beifall in den sozialen Netzwerken bekommt oder diese gar als Tool zwecks Selbstinszenierung nutzt, sondern aus Überzeugung. Mit den Konsequenzen muss ich leben. Aber dafür triffst du dann auch auf die richtigen Leute im Leben. Wie zum Beispiel Pia.
Mittlerweile war auch Frank in Sevilla eingetrudelt, wir boten ihm an, auf ein Schöppchen zu uns auf die Terrasse zu kommen, ein Angebot, welches er dankbar annahm, da er noch in der Nacht wieder nach Hause fliegen sollte und kein Dach über dem Kopf hatte – aber schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen war. Keine 20 Minuten später saßen wir oben im Schatten bei einem Cruzcampo und duschten von Zeit zu Zeit die Füße kalt ab. Dann war es an der Zeit, sich auf den Weg in Richtung Stadion zu machen. Gute 45 Minuten zu Fuß wies der Routenplaner aus, wir hatten jede Menge Zeit. Pia trug ihr weißes Sommerkleid, welches sie in Fuseta erworben hatte, ich das weiße Hemd, das schon in Barcelona Glück gebracht hatte. Die Handys waren aufgeladen, die rote Sonnenbrille saß auf der Nase und um meinen Hals baumelte der Eintracht-Tallinn-Schal. Matchday.
Wir schoben uns durch ein paar Gassen, bis wir die lange Zufahrtsstraße erreichten, die geradewegs zum Estadio Ramón Sánchez Pizjuán führt. Unterwegs besorgten wir uns abwechselnd Wasser, Cola und Dosenbier und wurden in einer kleinen Tapasbar hervorragend bewirtet. Die Straßenränder wurden an den Laternen unter violetten Blüten von Plakaten gesäumt, welche die Wappen der Rangers und der Eintracht zeigten, Schotten wie Frankfurter zogen gemeinsam ihres Weges durch die sengende Hitze, bis wir in Wurfweite des Stadions gerieten. Und während wir noch in Barcelona rund ums Camp Nou spazierten, uns in Märkten eindecken konnten, derweil andere in den umliegenden Bars hockten und Tapas futterten, erwarteten uns hier – Panzer. Diese versperrten den eigentlich für uns gedachten Zugangsweg. Vor der Sperre: Frankfurter und Schotten. Hinter der Sperre: Frankfurter und Schotten. Als einige Fans durchmarschieren wollten, wurden sie von der hiesigen Polizei rüde daran gehindert. Ich ging ein paar Schritte weiter – und spazierte mühelos auf dem Bürgersteig an der Sperre vorbei. Es ist und wird immer absurd bleiben, wie Fußball zuweilen organisiert wird. Wir marschierten an wenig pittoresken Gebäuden vorbei, bis wir die nächste Panzersperre erreichten, einige Pferde gebärdeten sich wild, die Staatsmacht ebenso. Da war kein entspanntes Miteinander, kein Schlendern in der Umgebung, da war nur eine aggressive Polzei und völlig entnervte Frankfurter, die nicht wirklich wussten, wohin mit sich. Immerhin gab es ein paar Meter weiter unten einen Supermarkt. Wir holten ein paar Dosen Bier und Wasser und setzten uns an der Straße auf ein Mäuerchen in den Schatten. Alsbald kamen die ersten Vorzügler des Fanmarschs, Arne konnte ich entdecken, Suse und Muelli, die schon jetzt ob der Hitze völlig fertig waren. Gisela und Bernd standen eine Weile bei uns, die treuen Seelen der Eintracht. Auffällig war bei allen, dass trotz des unfassbaren bevorstehenden Ereignisses, die meisten Leute eher fertig bis genervt waren. Frank, der schon Stunden vor dem Spiel hochnervös ist, verabschiedete sich in die Menge, wir hockten uns noch ein bisschen in den Schatten, bis wir uns ebenfalls auf den Weg ins Getümmel machten. Es hieß ja, man solle früh am und im Stadion sein – und neulich in Barcelona war es ja auch ein Fest, die Momente bis zum Anpfiff aufzusaugen. Die nach Anpfiff sowieso,
Heute stellten wir uns an der ersten Sperre an, Gottseidank im Schatten. Aus einem Balkon des Hotels am Eck wurde unter großem Jubel ein Eintrachtschal präsentiert. Wir wurden abgetastet, an der nächsten Sperre konnte dann das Ticket aktiviert werden, was auch mal mehr, mal weniger züging gelang – und so ging es Schritt für Schritt weiter. Während ich sonst alle Ereignisse und Bilder noch ewig danach in der Erinnerung abgespeichert habe, so erscheint mir die Zeit von der ersten Sperre bis zu dem ersten Kiosk im Stadion heute als eine einzige nebulöse Wand. Ich erinnere mich, dass wir kurz in der glühenden Sonne standen, dass alles reibungslos funktionierte und der Einlass eher von leichter Hand geschah – aber die Hitze, die Enge, der Durst forderten ihren Tribut. Die Leute waren mit sich beschäftigt, der Blick darüber hinaus kostete Kraft. Der Weg ins Stadion war staubig, das Gedränge ließ nach.
Als wir im Inneren des Stadions nahe unserem Aufgang eintrafen, hatte sich eine gigantische Schlange am einzigen Kiosk gebildet, ich schlich aufs Klo und trank Wasser. Dann wanderten wir die Stufen nach oben in unseren Block. Auf den Sitzen lagen weiße Kappen, davor steckten weiße Fähnchen hinter den Sitzschalen. Wir hockten uns zuerst in die falsche Reihe – und es war verwunderlich. Im Gegensatz zu sonstigen Auswärtsspielen in Europa – und ich habe einige davon erlebt, bestanden die Leute auf ihre zugewiesene Plätze. Freundlich, aber bestimmt. Wir schoben uns fast bis in die letzte Reihe, setzten die weißen Kappen auf und blickten ins weite Rund, das sich langsam füllte. Die Sonne brannte erbarmungslos auf uns herab und ich fragte mich, weshalb diese Plätze ganz oben im Eck über 60 Euro gekostet hatten, während andere weiter unten nur 40. Ich meine, ich gehe gerne nach oben, so ist es ja nicht. Naja, was soll‘s, wir waren drin, sahen den leuchtend grünen Rasen und immer mehr Frankfurter, die sich durch die Hitze in die Blöcke kämpften. Die meisten Schotten ließen noch auf sich warten.
Nur die Haupttribüne war überdacht, unsere Kurve war dem Sonnenlicht schutzlos ausgeliefert, hinter der Kurve Glasgows blickten wir auf eine Anzeigetafel, dahinter schoben sich Hochhäuser ins Blickfeld, Flutlicht gleißte in den Tag. Rot die Sitzschalen, Werbung war kaum zu entdecken. Die Eintrachtfans ganz in weiß, viele trugen ihre neuen Kappen, eine extrem gute Idee der UF, bei dieser Gluthitze die Kappen auszuteilen, danke dafür. Kathrin und Oli saßen bei uns in der Nähe, hie und da ein bekanntes Gesicht, Dirk und Daniela standen ein paar Reihen vor uns, auch Chris – aber erstaunlicherweise kannte ich viel weniger Leute als sonst. Als die Rangers auf den Platz kamen, wurden sie kräftig ausgebuht, die Eintracht später frenetisch gefeiert, aus den Lautsprechern schepperte seltsame Musik, der Stadionsprecher sprach ein verständliches Englisch, Rauchverbote wurden ausgesprochen, die geflissentlich ignoriert wurden, ein seltsam aseptisches Bild, auch als auf Frieden in der Ukraine hingewiesen wurde. Später wurden von Hunderten Helferlein große Planen auf dem Rasen ausgerollt, das Logo des Finales. Später dann die Wappen der teilnehmenden Clubs. Es schien alles angerichtet, die Form wurde gewahrt – und doch fühlte sich etwas falsch an, wie Lippenbekenntnisse, die das eigentliche verschleiern wollten. Die Inszenierung eines Fußballfestes, gewiss. Aber eine Inszenierung, die jegliche Spontanität, jegliche Wirklichkeit unter dem Glanz der Illusion verdecken sollte. Unser Stadionsprecher Daniel durfte ein paar Worte an uns richten, wurde interviewt und wir sahen Szenen aus den vergangenen Partien, das gleiche Programm dann für die Rangers. Every Saturday we follow. We cheer the boys in blue … erklang aus Tausenden Kehlen. Immerhin hatten sich nun ein paar Wolken vor die Sonne geschoben, langsam setzte die Dunkelheit ein und illuminierte den Himmel leuchtend orange-blau. Schwalben durchsausten das Stadion und kapriolten vor unseren Augen vor sich hin.
Dann ging es endlich los, wir schwenkten die Fähnchen, die große Choreo wurde aufgezogen, eine weiße Wand. Erinnert mich an die gelbe Wand der Südtribüne des BVB, und die kann auch gerne dort bleiben. Auf der anderen Seite die Schotten, individuell, Trikots, Chants, Banner an der Balustrade, ein Bild, dass mir sehr gut gefällt, durchchoreografiert ist eh schon viel zu viel, da liegt mir der anarchische Individualismus als Teil eines Ganzen schon näher. Wie auch immer, die Eintracht in Weiß ohne Hinteregger, Glasgow in Blau, die Schotten auf den Rängen in der Überzahl, wir schienen zunächst lauter. Druckvoll die Eintracht, bis nach wenigen Minuten Stille im weiten Rund herrschte. Rode lag auf dem Rasen – und es schien sich um etwas Schwerwiegendes zu handeln. Doch wenig später kam er zurück. Blutverschmiert, mit Turban auf dem Kopf, Nachtfinsternis lag nun über dem Stadion, die Hitze ließ nach, die Leute hatten Durst und die ersten Meldungen machten die Runde, dass es nichts mehr zu trinken gab. Unten flammten von Zeit zu Zeit ein paar Bengalos auf. Weder auf dem Rasen noch auf den Rängen wurde sich etwas geschenkt, nur die brachiale Wucht Barcelonas konnte weder hier noch dort umgesetzt werden. Die Hitze forderte ihren Tribut, hatte mehr Energie gekostet, als geahnt.
Mit einem 0:0 ging es in die Pause, der Spielausgang war völlig offen. Es war genau das Spiel, das zu Erwarten war. Kein TikiTaka, keine virtuosen Ballstafetten, ein war ein Fight auf Biegen und Brechen. Eigentlich sollte die Eintracht gewinnen. Es war Eintracht Frankfurt, die den Wettbewerb groß gemacht hatte, die Abertausende, welche die Reise nach Europa einst angetreten hatten. Es war die Eintracht, die Marseille, Lazio, Donezk, Inter und Benfica schon aus dem Wettbewerb gekegelt hatte. Die so dramatisch bei Chelsea die Segel streichen musste. Die sich weder von Piräus noch von Betis abhalten ließ. Die Barcelona defragmentierte und in London bei West Ham Revanche für das Ausscheiden 1976 genommen hatte. Es konnte heute Abend nur einen Sieger geben. Auch wenn die Rangers sich aus der Viertklassigkeit bis nach Sevilla gekämpft hatten. Es muss heute unser Tag werden. Ich reckte meinen Tallinn-Eintrachtschal in die Höhe, dann ging es weiter. Weiter unten erblickte ich meinen Freund Flo.
Und es zeigte sich ein gleiches Bild wie in der ersten Hälfte, um jeden Ball wurde energisch gefightet, Schiedsrichter Slavko Vincic aus Slowenien ließ viel laufen, leichte Vorteile für die Eintracht, die jetzt auf unsere Kurve spielte. Die Nummer 3 von Glasgow, Calvin Bassey, ein Tier. Dann verlängerte Sow unglücklich einen weiten Ball, Tuta rutschte aus und Aribo hatte keine größere Mühe, den Ball an Trapp vorbei zur Führung der Rangers einzuschieben. 0:1 in der 57. Minute. Die Rangers Kurve explodierte. Wir ließen kurz die Köpfe hängen, dann kam Hasebe für den angeschlagenen Tuta und die Minuten begannen zu rasen. Kostic und Knauff schoben sich unermüdlich die Außenbahnen hoch und runter, Borré ackerte, die Abwehr stand mit Trapp als Fels in der Brandung. Kamada. Aufs Tornetz. Und dann war es Kostic, der sich außen durchsetzen konnte, nach innen flankte und Borré, der trotz hunderter schottischer Beine den Ball zum Ausgleich ins Netz drückte. Wir fielen übereinander her, Ausgleich, alles wieder offen. Mein Sitznachbar drückte sich wenig später eine Insulinspritze und meinte zu mir, ich möge bei erneuten etwaigem Jubel doch bitte etwas aufpassen. Doch dazu kam es vorläufig nicht. Vor allem, da unsere Hälse vor Durst brannten, ich kämpfte mich durch die Massen nach unten und erwischte ein paar Tropfen Wasser auf dem Klo. Am einzigen Kiosk standen Hunderte an, darunter mein Kollege Sebastian. Ob er etwas zu trinken bekommen hatte, blieb fraglich. Nur für Pia konnte ich nichts mitbringen, ich hatte keinen Becher.
Oben war derweil wenig passiert – und so verging die Zeit mit Anfeuerung und Spannung, aber ohne Tore. Mit einem 1:1 ging es in die Verlängerung. Pia war mittlerweile völlig aufgelöst und schob sich runter zum Kiosk, wo sich dramatische Szenen abspielten, nur wenige, winzige Wasserfläschchen wurden ausgegeben, jeder Deckel einzeln abgeschraubt, die Leute waren kurz vorm Durchdrehen. Immerhin, ein Eintrachtler erbarmte sich und schenkte ihr eine der Miniflaschen, unwürdige Szenen spielten sich ab. Und die Leitungen auf den Toiletten waren zu diesem Zeitpunkt abgestellt. Niemand trank Bier. Es gab schlicht keines. Völlig fertig kam Pia zurück an den Platz, gab mir einen Schluck zu trinken, während unten auf dem Rasen die Minuten vorbei schlichen. Und als alles auf Elfmeterschießen hindeutete, stand Kent wenige Meter vor dem Tor und ich sah den Ball schon drin. Doch wie auch immer, Trapp hielt den Ball – und es ging tatsächlich wie schon bei Chelsea ins Elfmeterschießen. Die Eintracht inmitten des Feldes. Sie bildete einen weißen Kreis, alleine Trapp stach mit seinem orangenen Torwarttrikot hervor. Natürlich fand das Elfmeterschießen vor der Kurve der Rangers statt, natürlich begann Glasgow – und erzielte den ersten Treffer. Jetzt hielten wir die Luft an. Ausgleich. Lenz. „Kevin Trapp, Kevin Trapp“ schallte es durchs weite Rund. Es nutzte zunächst nichts, die erneute Führung der Schotten. Dann Hrustic. Er trifft. Ausgleich. „Kevin Trapp, Kevin Trapp“. 3:2 Rangers. Fuck. Jetzt Kamada, der so viele Tore in Europa geschossen hatte und doch mangelnde Unterstützung beklagte. Läuft an, schießt. Pfosten. Und rein. Ausgleich. Unfassbare Spannung als Ramsey anläuft. Trapp ist in der richtigen Ecke und hält den Ball. Wahnsinn, Vorteil Eintracht. Kostic. Trifft. ER TRIFFT. Jetzt muss Roofe treffen, und er setzt den Ball ins Netz. Ausgleich. Aber noch gibt es einen Elfmeter. Und Borré läuft an. Der Mann, dessen Tor uns erst ins Elfmeterschießen gebracht hatte. Jetzt liegt es an ihm, der Eintracht den Uefa Pokal zu bescheren. Borré läuft an, schießt hoch nach oben, McGregor fliegt in die richtige Ecke – und kommt nicht an den Ball, der jetzt im Netz zappelt. Es ist der letzte Akt in diesem Spiel. Der letzte Stempel ins Geschichtsbuch. Eintracht Frankfurt gewinnt den Europacup 2022 durch ein nervenzehrendes 5:4 im Elfmeterschießen gegen die Rangers aus Glasgow.
Pia schießen die Tränen in die Augen, ich stehe da wie angewurzelt. „Das gibt‘s nicht, die Eintracht hat den Uefa-Cup gewonnen“, stoße ich hervor. Nicht nur einmal, wohl eine Viertelstunde murmele ich ununterbrochen diesen Satz. Fassungsloser dürfte ich seltener in diesem Leben gewesen sein. Andy fällt mir um den Hals, ich bin zur ekstatischen Freude gar nicht fähig, klatsche mich mit den Umstehend ab. Spieler, Trainer und Offizielle laufen umeinander, die Rangers sacken zusammen – und deren Fans verlassen innerhalb weniger Minuten das Stadion. Die Glücklichen bekommen bald etwas zu trinken. Wir sind am Ende. Mit den Nerven. Dehydriert. Fassungslos. Glücklich?
Natürlich wird die Area für die Siegerehrung nicht vor unserer Kurve aufgebaut, sonder vor der halbleeren Haupttribüne. Die Rangers holen sich ihre Silbermedaille ab, die Eintracht steht Spalier. Dann ist die Eintracht dran, einer nach dem anderen bekommt seine Goldmedaille, dann reißt Kapitän Sebastian Rode, der Fighter, den 15 Kilogramm schweren Pokal inmitten des goldenen Konfettiregens in die Luft. „Mit dem Jürgen, mit dem Jürgen …“ Jeder, der sich noch irgendwie auf den Beinen halten kann, ist kurz vorm Durchdrehen. Kostic reißt die Arme nach oben, Glasner gibt den Diver. Über die Lautsprecher wird ein Eintrachtlied nach nach dem anderen georgelt … „Wir haben den U U Efa Cup – und wir werden Deutscher Meister. MEISTER“. Chandler drückt Dino aus der Kurve den Cup in die Hand. Er küsst ihn.
Tim, der ganz in unserer Nähe in Frankfurt wohnt, kommt zu uns. Es ist schier unglaublich, was wir gerade erlebt haben, weiter oben jubelt Kathrin. Ich bin am Arsch, brauche was zu trinken. Bin froh, wenn ich hier keine weiteren Jubelarien erleben muss. Das muss man auch einmal hinbekommen. Da gewinnt die Eintracht den Europapokal – und du musst dich zwingen zu feiern, weil du kurz vorm Umkippen bist. Und so macht sich ein eigenartiges Gefühl in mir breit, eine Melange aus Unglaube, Freude und Dehydrierung – in einem Ausmaß, wie es in diesem Leben so noch nie gefühlt wurde. Als es an der Zeit ist, verlassen wir den Block. Kein Kiosk hat geöffnet, die Wasserhähne im Klo sind abgestellt. Bastarde brülle ich, Hurensöhne – aber es nutzt nichts. Wir treffen unsere Freunde und schieben uns vor das rot erleuchtete Stadion. Kein Getränkestand, kein Schwarzhändler, nichts und niemand will uns etwas zu Trinken verkaufen. Hunderte weiße Trikots schieben sich in Richtung Innenstadt, vorbei an Bullenautos und grimmigen Cops. Keine Bar hat offen, kein Mercado, kein Kiosk. Andi versucht, uns zu erreichen. Ich bin zu genervt, um vernünftig zu planen. Als wir doch eine offene Bar in einer Seitenstraße entdecken, ist ein Durchkommen unmöglich. Wir schieben uns eher schweigend in Richtung Fantreff, auch dort hat auf den ersten Blick nur eine einzige Bude offen. Wir haben unterdessen auch unsere kleine Gruppe aus den Augen verloren und treffen Andi mit seinem Kumpel David, schleichen anschließend durstig durch die Gassen. Immerhin spendet ein Straßenbrunnen ein bisschen Trinkwasser. Aber wo auch immer wir schauen, es gibt für uns keinen Platz zum Feiern. Die wenigen Kioske, die noch Angebote feil halten, werden von Schotten wie Frankfurtern gleichsam belagert. Bullen halten uns grob davon ab, eine autoleere Fahrbahn außerhalb einer Ampel zu überqueren, es ist ein absurdes, unwürdiges Unterfangen in dieser wunderschönen Stadt, deren organisatorische Unfähigkeit zum Himmel schreit. Wir wandern noch ein paar Meter in Richtung unserer Unterkunft. Dort, wo gestern noch Tausende zusammen saßen, ist heute Totentanz. Es nutzt nichts, eine Feier, so klein sie auch sein mag, fällt aus. Wir verabschieden uns von Andi und David, die in die andere Richtung müssen und machen uns auf, ins Hotel. Pia hat das Navi gezückt, wie Zombies folgen wir der Ansage des Routenplaners, ignorieren fallende und kotzende Schotten, vor dem geistigen Auge eine Wasserflasche, links, rechts, geradeaus. Keine Kneipe hat auf, kein einladendes Winken auf dem ganzen Weg. Wir sind in unserem Viertel, in unserer Straße, in unserem Haus. Reißen den Kühlschrank auf. Immerhin, unsere Getränke sind noch da. Wir packen die paar Dosen Bier unter den Arm, gehen aufs Zimmer und leeren binnen Sekunden die anderthalb Liter Wasserflasche und schütten die Fanta hinterher.
Dann hocken wir uns auf die angenehm temperierte Dachterrasse, zünden eine Cigarette an und blasen den Rauch in den ruhigen Abendhimmel. Anschließend reißen wir uns jeder eine Dose Cruzcampo auf und stoßen blechern an. Wir erfahren, dass eine Entourage irgendwo in Sevilla an einem geheimen Ort die Korken knallen lässt. Wir stoßen mit unseren roten Dosen noch einmal an. Das letzte Bier teilen wir uns. Als Europapokalsieger. Morgen Abend wird unser Bus nach Faro gehen, noch vor Einbruch der Dunkelheit sollten wir Fuseta erreichen. Darauf freuten wir uns. Und womöglich eines Tages auch über den Pokal. Nachts um halb drei endete sie, die letzte Nacht in Sevilla. Wir waren fertig mit der Welt und fielen in die Kojen. Es wurde ein traumloser Schlaf. Und in der Ecke stand mein Choreo-Fähnchen.