Vielleicht begann alles mit der Buchung eines Hotelzimmers in London, als nach der Auslosung klar war, dass die Eintracht im Halbfinale des Europacups womöglich auf West Ham trifft. Beinahe wäre auch noch ein Flug dazu gekommen, aber dann fiel uns noch rechtzeitig auf, dass wir eventuell ja auch in Lyon spielen könnten. Also ließen wir es. Letztlich kam eh alles ganz anders als geplant. Davon erzählt diese Geschichte.
Es wäre sicher ökonomisch gewesen, nach der 3:0 Führung in Barcelona die Flüge nach London klar zu machen, allerdings wollten wir jeden einzelnen dieser magischen Momente im Camp Nou genießen und ließen die Finger vom Handy. Als wir uns dann endlich darum kümmerten, lagen die Flugpreise wenig überraschend jenseits von Gut und Böse. Da wir eh im November in London sein werden (vorausgesetzt, es läuft alles nach Plan), entschieden wir uns, für das Spiel bei West Ham doch den Tagesflieger zu nehmen und stornierten unser Zimmer. Bei Bekanntgabe der Preise für den Flug schluckten wir und buchten dennoch – nur um eine halbe Stunde später schweren Herzens abzusagen. Trotz aller Bemühungen der Fanabteilung und des Fanclubverbandes war uns die Rechnung einfach zu hoch. Zumal wir schon rund um das Finale in Sevilla eine Woche Urlaub in Portugal gebucht hatten – mit der Option auf eine kleine Busreise nach Südspanien. Bleiben wir halt mal zuhause, gucken TV und gut ists.
Ein paar Tage vor dem Spiel bei West Ham schickte uns Caro eine Nachricht, dass bei den Geiselgangstern im Bus kurzfristig noch Plätze frei geworden sind, preislich überschaubar. Oha, jetzt müssen wir fix sein. Pia schüttelte den Kopf, das stundenlange Sitzen, die Strapazen, das ist nichts für sie. Ich überlegte kurz, funkte Gabi an – und stand immerhin auf der Nachrückerliste. So gab es plötzlich die kleine Option, zumindest für mich, doch noch nach London zu kommen. Aber ich machte mich nicht verrückt, es kommt eh, wie es kommen muss. Früher sind wir oft mit den Geiselgangstern gefahren. Damals lebte Ralf noch, wir waren jünger, und jede Fahrt war ein Abenteuer, von dem du nie wusstest, wie es ausgeht. Unterwegs mit dem Linienbus, ohne Klo und viel HalliGalli – mit den Jahren wurden wir ruhiger und planten unsere Reisen individuell oder mit Freunden.
Jetzt war ich gespannt – und tatsächlich bekam ich zwei Tage später die Nachricht, dass ein paar Leute ausgefallen sind und ich mit dabei bin. Einerseits freute ich mich, andererseits hieße dies, dass Pia aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause bleiben würde. Und das ist immer schade. Ein paar kleinere Optionen zerschlugen sich für sie und so begleitete sie mich am Mittwoch, den 27. 04. 2022 gegen 18 Uhr tapfer zur Straßenbahnhaltestelle. Wir trafen unterwegs noch Jens, den ich später in London wiedersehen sollte, die Bahn rasselte an, eine letzte Umarmung und schon rollte ich los, winkte Pia und ratterte für die nächsten 48 Stunden ins Ungewisse. An der Konsti stieg ich um in die S-Bahn, kurz darauf erreichte ich die Louisa, spazierte durch die mit Graffiti versehene Unterführung und trudelte am Fanhaus ein. Ich war einer der ersten, Gabi wuselte mit dem Handtuch auf dem Kopf herum, ich rauchte eine Cigarette und betrachtete meine kleine Tasche. Viel hatte ich nicht dabei. Meine Klamotten trug ich am Leib, eine Zahnbürste und ein kleines Handtuch konnten nie schaden, Reisepass, Handy, Tabak, kleines Feuerzeug, eine Maske sowie Covid-Gums, die mir Pia zugesteckt hatte, kleine Kopfhörer, einen Sarong, drei Brötchen, mein Portmonnaie und eine Powerbank – das war‘s.
Nach und nach trudelten die Mitreisenden ein, viele junge Leute, ein paar alte Hasen, ein paar Neulinge – eine bunte Mischung Wahnsinniger, die die Eintracht nach London begleiten würden. Und wie immer dabei: Buffo – allerdings ohne Gerre, der mit Tankard in Stockholm eines der in den letzten Jahren selten gewordenen Konzerte spielen sollte. Dabei war auch Carina, die in der heißesten Nacht des Jahres damals in Tallinn im gleichen Hotel untergebracht war. Ohne eine Möglichkeit, die Fenster zu öffnen. Wenn man denn eins hatte. Ich hatte keines. Bald brachte ein Trupp die Getränke und anderes Geraffel in den weiter unten stehenden Bus, der sich eine halbe Stunde später in die Stresemannallee schieben sollte. Punkt 20:30 Uhr rollten wir los. An den Plätzen hingen kleine Plastikwimpel mit unseren Namen, das war schön. Meiner war ganz vorne mit Blick durch die Panoramascheibe, neben mir saß Janina, die ich soeben kennen lernte und die sich als ruhige und angenehme Sitznachbarin erweisen sollte. Daneben hockte Buffo. Dahinter dann ein paar Jungs, die zum ersten Mal mit den Geiselgangstern dabei waren und sich als angenehme Gesellen zeigten. Im hinteren Bereich trieb die Jugend ihr Unwesen, sowie Gabi – aufgeregtes Geschnatter allenthalben. Waldstadion. Autobahn. London, wir kommen.
Wir rollten in die anbrechende Dunkelheit und es war klar, dass es bis zur ersten Pause nicht all zu lange dauern würde. Die Tradition, etliche Pausen einzulegen, die noch aus der Zeit des toilettenlosen Busses stammte, wurde beibehalten, praktisch für die Raucher unter uns. Die erste wurde genutzt, um die kleine Discokugel in der Mitte des Busses zu montieren, alsbald schallten kunterbunte Klänge durch den fidelen Bus – Lieder über den Drogenhund Eduard, über Banknoten und darüber, dass unser Auto mit Äbbelwoi fährt. Zwischendrin ein paar Popsongs, ich blickte aus dem Fenster, Dunkelheit, wir rollten, stoppten, rollten. Ich quatschte mit Buffo übers die Eintracht oder über das Ticketing, welches zuweilen gewaltig hakt, wir tranken ein paar Bier, machten Pausen. Hinten siedete die gute Laune, die Musik wurde weniger gesellschaftskritisch, Gesänge schallten durch den Bus, Limburg, Aachen, Lüttich. Stunde um Stunde verging, die Discokugel warf ein buntes Licht in die Nacht, die belgischen Autobahnen in helleres Licht getaucht. Mal döste ich ein bisschen vor mich hin, mal blickte ich auf die Fahrbahn – aber eingeschlafen bin ich nicht wirklich. Bei Texaco machten wir Station. Bissi über 300 Liter getankt. 630 Euro. Gegen fünf Uhr Morgens erreichten wir Calais. Der Fährhafen lag im Dunklen, es war nichts los, außer einer Menge LKWs, die gleichfalls mit der Fähre übersetzen sollten. Das Einreiseprocedere jedoch war eine zeitraubende Angelegenheit, bis alle Pässe eingesammelt, gescannt und wieder ausgegeben wurden, war der Tag erwacht. Natürlich hatte die erste Fähre schon abgelegt, eine nächste sollte erst in einer Stunde los tuckern, der Fährhafen lag im pittoresken Morgenlicht, Möwen schnatterten, im Gebäude gegenüber gab es eine funktionierende Toilette und tatsächlich rollten wir zwei Stunden nach Ankunft in Calais auf die Fähre nach Dover und verschwanden im Bauch des riesigen Schiffes.
Oben im Passagierbereich führte eine Tür legal auf das Oberdeck an die frische Luft. Von dort konnte man aufs Wasser schauen und rauchen. Drinnen gab es Sitze, Spielautomaten und ein englisches Frühstück, welches im Preis inbegriffen war. Die LKW-Fahrer hatten einen eigenen Bereich. Alsbald schoben wir uns über den Ärmelkanal. Ich schaufelte Würstchen, Brot und eine Art dreieckige Kartoffelpuffer samt Speck in mich hinein, auf die Bohnen hatte ich dankend verzichtet, blickte mal ruhend aufs Wasser, mal putzte ich in der Dusche meine Zähne und wusch mir die Ohren, mal rauchte ich im Wind, der mir um die Ohren wehte und freute mich, erstmals im Leben die weißen Felsen von Dover zu sehen.
Waiting for morning on the ferry boat deck 5 miles out of Calais
Tired and cold and wet to the skin watching the waves and the spray
…
Home, hurry home
To valleys green
And cliffs so tall and so white
Home, hurry home
I can see the lights of Dover through the night …
sangen The Men they couldn´t hang vor Jahrzehnten – und in der Tat war auch für mich dieser Blick ein Lebenswunsch, der unverhofft in wenigen Momenten in Erfüllung gehen sollte. Nur home fuhren wir nicht. Sondern zum Eintrachtspiel bei West Ham United. Eintracht Frankfurt international.
Gute anderthalb Stunden nach Ablegen konnte ich ich am Horizont die weißen Felsen entdecken, die mit jeder Minute näher kamen. Ich stand oben alleine, rauchte, blickte auf die Felsen, ein Wind zerzauste meine Haare – und war für einen kurzen Moment eins mit der Welt. I can see the lights of Dover through the night …
Das Anlegen dauerte ein Weilchen, dann kletterten wir alle wieder in den Bus und rollten im Linksverkehr durch England, passierten Folkstone und Canterbury, bis wir London erreichten, uns durch manchen Stau quälten, bei der O2 Arena seltsame Gebäude entdeckten und letztlich am Gästeparkplatz den Bus parken konnten. Da war es. Das Olympiastadion. Hammer. 11 Uhr. Ich war jetzt seit 29 Stunden wach – und hatte einen langen Tag vor mir, gipfelnd im Spiel der Eintracht. Peu a peu trudelten auch die Busse ein, die die Tagesflieger von Stansted zum Stadion brachten, hier war Nina, da Grischa – ein großes Hallo hub an – und zu meiner Überraschung traf ich auch Kid, dessen Reise sich eigentlich schon zerschlagen hatte.
Mein Ziel für den Tag war halbwegs klar umrissen. Zwar waren wir schon oft in London – aber noch nie im Victoria Park und im angrenzenden Hackney. Dort wollte ich mich umschauen, um anschließend über die Brick Lane wieder Richtung Stadion zu wandern. So marschierte ich los, trieb mich unten am Kanal entlang, bis ich am Park landete. Der Victoria Park versprach Morgenruhe, grüne Flächen, vereinzelte Jogger, hätte ich eine Liege gefunden, ich wäre sofort eingeschlafen. Es gab aber keine Liegen – außerdem wollte ich ja unterwegs noch ein bisschen was entdecken. Meine Tasche hatte ich im Bus gelassen, da dieser vor dem Spiel nicht mehr öffnen sollte und ich nur das Stadionnötigste mit mir trug. Hoodie, Jacke und Schal. So es ein heißer Tag werden würde, hätte ich gelitten – aber im End hat sich mein Outfit bewährt. Weder fror noch schwitze ich, noch schleppte ich unnötigen Ballast mit mir rum. Unterwegs. Am Ausgang des Parks sprach mich ein Frankfurter an: Hej, bist du der Axel von der Waldtribüne? Der war ich unzweifelhaft – und der Zufall wollte, dass Elmar, so hieß der Frankfurter, mit meinem ehemaligen Nachbarn Stefan unterwegs war, mit dem ich mich eh treffen wollte. Sachen gibt‘s. Der kleine Biergarten am Ausgang hatte noch geschlossen, ich freute mich auf ein Bierchen dort – In Ruhe. Vor dem Spiel.
Dann trieb ich durch Hackney, oben gepflegte Gegend, eine Gruppe uniformierter Schulkinder marschierte an mir vorbei, weiter unten multikulti, Kebabläden, Graffiti. Echtleben. Doch kaum jemand saß auf der Straße – obgleich es nicht kalt war. Okay, London ist nicht Barcelona. Mit einem schwarzen Tee in der Hand wanderte ich Richtung Cambridge Heath. Ich war noch nicht lange marschiert, als ich auf der Straßenseite gegenüber ein paar Engländer sah, die mich frappierend an ein paar Jungs erinnerten, die auch immer mit der Eintracht unterwegs sind. Ich kam näher – und na klar, die Fat Boys Gang. Hier im gottverlassenen Hackney. Wo sonst? Die Jungs treffe ich fast immer. Mal im Zug nach Salzburg, mal im Flieger nach Rom, mal in einer Kneipe in Guimaraes oder in irgendeiner Ecke in Athen. Filzi kenne ich schon ewig, von Ernst gibt es Bilder mit der Eintracht als junger Kerl – heute ist er mit seinem Infoschild bei Heimspielen der Eintracht unterwegs, Armin habe ich über die letzten Europa-Jahre kennen gelernt. Die Gang treibt sich immer an lustigen Orten rum und macht sich keinen großen Kopf – und sie finden immer coole Plätze, so ist es kein Wunder, dass wir uns treffen. Aber schmal sind sie geworden.
Ich spazierte die Straßen entlang. London. Dark streets of London. Und es ist echt so: Die besten Orte sind hier meist die, wo viele Emigranten und deren Nachfahren leben. Es ist nicht überzuckert, die Wände sind bemalt, alles wirkt unaufgeräumter und die Preise sind erschwinglich. Hie und da verschwand ich in den Nebengassen, fotografierte mit müder Hand – und landete letztlich in der Brick Lane. Aber so richtig hatte ich keinen Blick für nichts, nicht für die Beigel, nicht für Streetart, nicht für die Vintageläden. Schade, dass Pia nicht dabei war, die hätte bestimmt was entdeckt. Ich warf noch einen Blick in den Rough Trade Store, aber da ich eh nichts kaufen konnte (Stadion!) knipste ich hier und da noch ein Straßenbild und trieb wieder hoch nach Hackney, holte mir eine Cola und ein paar Malteser, zog mir ein paar Pfund und suchte einen Laden, der meinen Hunger stillte. „BEVE“ hallte es aus einem Fish‘n‘Chips Schuppen. Da saßen sie wieder, die Fat Boys. Und schon hockte ich drin, Kabeljau, Pommes und Cola für 8,50. Neonlicht. Lachender Chef. Festgeschraubte Stühle.
Dann spazierte ich durch den Park London Fields, entdeckte die putzige Straße „Broadway Market“, Urlaubsfeeling am Canal. Could I have a black Tea please? Es klang wohl eher nach: Kutt ei hef e bleck ti. Die junge Dame verstand mich nicht. Weia. Okay. Could oi hä a block tej? Das Ice war gebrochen. Also, geht doch, wir lachten, sorry only Credit Card. Klappt, Thanks.
Ich war müde und kaputt, hatte mittlerweile seit 33 Stunden nicht gepennt, 25.000 Schritte in London hinter mir und quetschte mich mit meinem Tee auf eine Bank am Kanal, Hausboote, Jogger, Hunde. Jetzt musste ich aufpassen, nicht einzuschlafen – in Indien hatte ich nach einer ähnlichen Tour mal 24 Stunden am Stück gepennt, das sollte mir hier nicht passieren. Also betrachtete ich das Treiben, funkte Caro und Heike an, die gar nicht so weit entfernt durch die Gassen zogen und setzte mich in Bewegung. Bald war ich wieder in der Nähe des Victoria Parks – und schon hörte ich wohlbekannte Gesänge. Dort, wo ich eigentlich ein ruhiges Bierchen trinken wollte, hatte sich nun die Anhängerschaft der Eintracht versammelt. Hier traf ich auch Stefan wieder, wir tranken unser versprochenes Bierchen, auch die Familie Minden klopfte mir von hinten auf die Schulter. Ihr wisst, es ist höhere Pflicht, dass wir uns treffen. Sogar Matteo war wieder mit dabei. Als Vater.
Dann entdeckten mich Caro und Heike, es war sowieso überall ein großes Gude hier und Gude da. Auch Lea war dabei, sie hatte vor Corona immer mal wieder bei uns gesessen, jetzt lebte sie seit einem Jahr in London. Und hatte noch kein Ticket. „Gib die Hoffnung nicht auf“. Sie nickte eher traurig.
Unser Weg führte uns später am Park vorbei Richtung Olympisches Viertel, Heike wollte Basti noch treffen, und lotste uns den Weg, vorbei an einem Supermarkt (Bier rein), am Kanal entlang (Bier raus), bis wir zwischen Beton- und Glasfassaden in einem Bereich landeten, der wohl rund um die Olympischen Spiele entstanden war. Welch ein Kontrast zur Gegend rund um Cambridge Haeth. Fliegende Händler packten ihre Spieltagschals aus, ich den meinigen unter die Jacke. Obacht. West Ham Gebiet. Dort wo wir Basti vermuteten war er aber nicht, ein paar Blowing Bubbles warnten uns eher scherzhaft aber durchaus ernst zu nehmend, davor, den Pub zu betreten – wir quatschen mit ihnen über 1976 und Haller. Thanks, bye, take Care.
Basti und die Jungs hielten sich kurz in einem piekfeinen Hotel auf, wir marschierten über lärmdämpfende Teppiche, überall vornehmes Menschengewisper, ich in der Auswärtsmood mit einer Dose Bier in der Hand. Sie saßen draußen auf der Terrasse bei Schwarztee (Bitte nicht rauchen) und hatten Ticketfragen zu klären. Ein netter Hotelangestellter kam auf mich zu, bat mich in ausgesucht unaufgeregter Freundlichkeit darum, mein Bier in ein von ihm gebrachtes Glas zu gießen und nahm meine leere Dose mit. Kurz war ich versucht, nach einem Aschenbecher zu fragen, wollte die Gastfreundschaft aber nicht überstrapazieren. Quatschte mit Marvin und Kristian, dann wanderten wir zurück auf die Straße, vorbei an einer mit West Ham Trikot verzierten winzigen Bullldogge, Menschenmengen auf feinen Plätzen – im Hintergrund wuchs das Olympic Stadium in die Höhe, heute die Heimstätte von West Ham. Nach einem kurzen Abstecher zu den Bussen ging‘s Richtung Gästeeingang. Unterwegs natürlich ein großes Hallo auf allen Wegen. Das beste war, dass wir auf dem Weg Joe trafen. Joe ist ein Junge aus England, der Bundesligastadien aus Lego nachbaut, natürlich auch unser Waldstadion. Vor ein paar Wochen hatte ich ihm jede Menge Detailbilder geschickt, da war von einem Spiel der Eintracht in London noch keine Rede. Jetzt posierten wir für ein Selfie, High Five. Cool. Und für Lea fiel auch noch ein Ticket ab. VIP. Erst war die Freude groß. Dann schlüpfte sie hinein. Und flog wegen des deutschen Passes wieder raus. Am End war sie dann doch drin. Alles gut!
Durch unser ganzes Hin und Her landeten wir natürlich mitten in der Menge, die vom Fanmarsch anspaziert kam; der eigentliche Plan, früh im Stadion zu sein, war hinfällig. Pia hätte schon dafür gesorgt, aber sie war ja jetzt nicht dabei. Aber es blieb alles entspannt, Leute zum Quatschen gab es ja genug, hier war Andy, da Bernd und Gisela und natürlich Tausend andere. Grüße. Links und rechts von uns Polizeiautos. Langsam aber stetig ging es Richtung Einlass, Zeit für ein Dosenbier. Schneller als gedacht, erreichten wir die Kontrolle. Caro, Heike und ich blieben brav beisammen, passierten ohne Schwierigkeiten die erste Kontrolle, schlüpften auch bei der zweiten elegant hinein, die Tickets waren gültig – und da standen wir. Ich war mittlerweile wieder hellwach.
Der erste Blick auf den Rasen. Einatmen. Schal hoch. West Ham, here we are. Im Unterrang fanden wir auch ein ansprechendes Plätzchen, schwarze und weiße Fähnchen waren ausgelegt, Musik brüllte uns in die Ohren, das Stadion füllte sich, aber außerhalb unserer Blöcke erwartungsgemäß nur Engländer. Die Show vor dem Spiel war nervenzehrend, Lightshow (die Anzeigetafel warnte vor epileptischen Anfällen) inszenierte Feuersäulen, springender DJ, ohrenbetäubender Krach vom Band – fehlte noch Helene Fischer oder Florian Silberseisen. This is England? Heilige Scheiße. Seifenblasenmaschinen sprudelten bunte Seifenblasen ins weite Rund. Forever blowing Bubbles. Niedlich. Überall standen Ordner, entspannt – aber für Überwachung war gesorgt. Rauchen war ja verboten, ging aber dennoch. Heimlich. Wie früher.
Naja, wir sangen unsere Lieder, auf der Gegentribüne kleine Choreo, langsam wurde es Fußball. Wir schwenkten unsere Fähnchen. Anpfiff. Tor für die Eintracht. Was ist denn hier los? Die Engländer guckten blöd, wir fielen übereinander. Knauff. Der Wahnsinn erreichte eine neue Ebene. Es entwickelte sich ein munteres Spielchen ohne Mätzchen, die Zeit ging schnell vorbei. Oh Eintracht Frankfurt Schalalalala … Batsch. Ausgleich. Immerhin war auch in London die Inszenierung vorbei, jetzt wurde es insgesamt merklich fußballerischer, die Hammers sangen ihre Lieder, bei uns leuchtete ab und an ein Fackelchen, der Stadionsprecher hielt sich zurück, eine Fankurve in unserem Sinne gab es bei West Ham nicht. Von oben wurden wir vereinzelt bepöbelt, grüßten zurück. Halbzeit.
In der Pause würdigte West Ham seine Helden von 1976 – die Spieler von damals liefen auf den Rasen und wurden gefeiert. Seinerzeit war die Eintracht nach einem 2:1 im Hinspiel mit 1:3 im Upton Park unterlegen, West Ham zog ins Finale des Europapokals der Pokalsieger ein – und unterlag dort gegen Anderlecht. Wir haben die Eintracht in einem anderen Endspiel gesehen. Mit dem Jürgen, mit dem Jürgen … Weiter, zweite Halbzeit. Alles geben. Die Helden um Sir Trevor Brooking verschwanden im Trakt.
Die Eintracht fightete, Rode, Hinteregger und immer wieder Kamada. Trapp. Sow. Schießt. Abpraller. Kamada. TOOOOOOOOOR für die Eintracht. Die Anzeigetafel sprang auf 1:2. Auswärtssieg! Auswärtssieg! West Ham versuchte es, die Eintracht hielt dagegen. Drei Minuten Nachspielzeit. Fallrückzieher West Ham. Ausgleich? Nein Latte. Schlusspfiff. Krass. Eintracht Frankfurt wird mit einem 2:1 Auswärtssieg in das entscheidende Rückspiel gehen. Das ist gut. Aber wir sind bei weitem noch nicht durch. Ein früher Treffer von West Ham – und die Uhren stünden wieder auf Null. Aber wir haben es in der eigenen Hand. Wir könnten wirklich wieder einmal in einem europäischen Finale stehen. Unsere kleine große Eintracht. Abstiege. Kaiserslautern. Lizenzentzug. Reutlingen. Es ist unfassbar.
Wir feierten die Mannschaft, die Eintracht. Setzten uns, standen wieder auf. Oh Eintracht Frankfurt, schalalalalala, Schals in die Höhe, im Herzen von Europa. Entdeckten Jan Aage Fjörtoft, feierten ihn als hätte er mitgekickt. Bald hätten wir auch noch jeden Grashalm und jede Eckfahne hoch leben lassen. Schwarz weiß wie Schnee… Doch dann sollten wir raus. Es war ja auch schon spät.
Wir marschierten die Stufen nach unten und wanderten Richtung der Busse – bis auf einmal alles stockte. Und dann gar nichts mehr ging. Wir standen, schimpften, warteten – vereinzelte Pfiffe – dann setzte sich der Tross in Bewegung. Nach einigen Metern sahen wir, dass eine Person medizinisch versorgt wurde, mag sein, dass dies der Grund für die Verzögerung war. Gute Besserung.
Bei den Bussen verabschiedete ich mich von Caro und Heike, die mit dem Tagesflieger vor Ort waren, rauchte und alsbald setzte sich unser Bus in Bewegung, mit als letzter verließen wir den Parkplatz, rollten durch London Richtung Dover, im Bus war es seltsam still, die Leute waren abgekämpft und müde. Irgendwann schlief ich rechtschaffen ein. Bis dato war ich über 40 Stunden auf den Beinen, ein Erleben jagte das nächste. Traumlos der Schlaf– bis wir am Fährhafen landeten. Ein Grenzbeamter wies uns an, ans Häuschen auf der Lane 4 zu fahren. Unsere Busfahrer aber wollten der Angelegenheit ein Schnippchen schlagen, umfuhren die Kontrolle – um an der nächsten angewiesen zu werden, einem Polizeiauto zu folgen. Während sie sich noch wunderten, wo die Reise hingehen würde, ahnte ich, was kommt. Wir verließen den Fährhafen – nur um erneut die Einfahrt zu passieren. Lane 4. Mittlerweile waren zwei Busse vor uns. Reisepässe. Covidkontrolle. Die Busse vor uns erreichten die Fähre. Wir standen zwei Stunden später einsam vor einem Bauzaun. Weit und breit kein Schiff. Immerhin konnte ich noch ein Stündchen schlummern. Nachts um zwei waren wir angekommen – und um fünf endlich auf der Fähre. Müde schleppte ich mich ins Oberdeck, schaufelte mein Essen in mich hinein und legte mich hin. Noch im Fallen schlief ich ein. Durch einen Ruck wurde ich wach. Wir waren gelandet, die anderen standen schon an der Treppe nach unten. Hastig schlüpfte ich mit dicken Füßen in die Schuhe – und war nicht der letzte. Aber irgendwann waren doch alle da und die Reise ging weiter. Nur Calais hieß jetzt Dunkirk, was mir aber auch egal war. Mal pennte ich, mal schaute ich aus dem Fenster. Aus den Boxen tuckerten Cock Sparrer, Motörhead oder Perkele, wir spulten Kilometer um Kilometer ab, hielten alles naslang, Brüssel 140 Kilometer. Pause. Lüttich. Aachen. Burger King in Düren. Koblenz. Medenbach. Bus sauber machen. Und irgendwann sahen wir die Skyline von Frankfurt. Und irgendwann waren wir am Flughafen. Mittlerweile hatte sich Pia aufgemacht, um mich abzuholen. „Denk bitte an meine Aldiletten“.
Knappe 48 Stunden nach meinem Aufbruch betrat ich wieder Frankfurter Boden. Pia kam mir mit dem Dacia entgegen, der Abschied von der Truppe war kurz und schmerzlos, ich fiel Pia in die Arme, schlüpfte in die Aldiletten und schnaufte durch. Abends tranken wir noch ein Bierchen mit Niko und Kathrin. Frischgeduscht. Die Badeschlappen noch immer an den Füßen.
Was für ein Trip, was für ein Abenteuer. 48 Stunden prall gefüllt mit Erlebnissen, Begegnungen, Umarmungen, voller Müdigkeit und Entdeckungen, ein Potpourri an Eindrücken, von Freundschaft und Blicken. Die Felsen von Dover. Eintracht Frankfurt international.
Dank an Gabi und die Geiselgangster dafür („Drogen und Gewalt“). Dank an die Eintracht – aber das sind ja auch wir. Dank an Caro und Heike für den schönen Zusammenhalt. Und Dank an Pia. Mit ihr begann und endete die Reise. Und in Sevilla ist sie ja wieder dabei. Darauf freue ich mich jetzt schon!