Vielleicht begann alles auf der Müllkippe in Mömlingen. Dort verbrachte ich die Wochenenden und Ferien meiner Kindheit. Also nicht auf der Müllkippe, sondern in Mömlingen, dem Geburtsort meiner Mutter. Meine engsten Freunde dort nannten mich beim Namen, für die anderen war ich: „Der Frankfurter“. Das war okay. Auch wenn ich die letzten beiden Jahre schon in Dietzenbach wohnte.
Die Müllkippe lag ein paar hundert Meter außerhalb des Ortes, oft legte ich den Weg dorthin mit dem uralten Fahrrad meiner kurz vor meiner Geburt verstorbenen Großmutter zurück. Dann stromerten wir über die Müllberge, schraubten noch funktionierende Birnchen aus den entsorgten Rädern und suchten nach Schätzen. Kurz vor der WM 1974 brachte die HörZu eine Serie von Karikaturen des deutschen WM Kaders im Heft, ich durchforstete die alten Zeitschriften, bis ich sie alle zusammen hatte, darunter auch Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein. Ihr Verein: Eintracht Frankfurt. Meine alte Heimat. Seit ein paar Wochen lebten wir nun statt in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt Bockenheim in einem kleinen Reihenhaus in Dietzenbach, zurück blieben meine alte Klasse und meine Freunde. Und irgendwie auch meine unbeschwerte Kindheit, zumal ein Jahr später mein Mömlinger Stiefgroßvater starb und wenige Monate darauf mein Frankfurter. Auch der weiße Opel Kadett bekam ein neues Kennzeichen, statt F-X 642 prangte nun ein Offenbacher Nummernschild an der 45-PS starken Kiste. Die Zeiten waren im Wandel, so wie sie immer im Wandel sind – nur manchmal ruckt es stärker. Als mein Mömlinger Großvater starb endete meine Zeit dort ziemlich abruppt, doch davon war im Sommer 1974 noch keine Rede. Zu Lebzeiten kümmerte sich meine Mutter um ihren Stiefvater, der die letzten Jahre mehr oder minder verdämmerte, nach dessen Tod sorgte sich die Verwandtschaft um das überschaubare Erbe und riss es sich unter den Nagel. Die HörZu Karikaturen aber lagen bei mir.
Ich vermisste Frankfurt, meine alte Gegend, die Pfadfinder, die Schule. In meinem ersten Zeugnis stand: Axel ist zwar sehr intelligent und rege, hat aber manchmal Mühe, sein Temperament zu bändigen – geschrieben von Frau Brach, meiner Klassenlehrerin. Ich habe sie geliebt.. Gekickt haben wir damals schon, mit den Pfadfindern oben an der Frauenfriedenskirche, in Mömlingen mit dem Tennisball auf die steinerne Mauer unsere Gartens neben dem Haus. Manchmal verschwand der Ball im Regenabflussrohr unten in der Mauer. Erinnerungen.
Grabowski. Dieser Name hatte sich in mein Hirn gebrannt. Im Sommer 1974 wurde Deutschland im eigenen Land Weltmeister, die Eröffnungsfeier fand damals im Frankfurter Waldstadion statt, Tausende Frankfurter Schulkinder waren dabei. Ich nicht, seit Januar lebte ich ja in Dietzenbach – und war ein bisschen neidtraurig. Aber ich durfte abends Fußball gucken, immerhin. Und ich sammelte erstmals Fußballbildchen für das Bergmann-Album, Uruguay in schwarz-weiß, der 40er Kader Deutschlands in hellblauen Trainingsanzügen – somit kannte ich mich schon ziemlich gut aus. Neben Grabowski und Hölzenbein fand ich vor allem den langmähnigen Brasilianer Francisco Marinho cool, obwohl man das damals noch gar nicht sagte. Marinho ist vor ein paar Jahren, er wurde nur wenig älter als 60, gestorben, er hing wohl an der Flasche. Eines der ersten Dramen, die ich miterlebte, war das 0:1 Deutschlands gegen die DDR, das Tor durch Jürgen Sparwasser wurde weltberühmt – in der Folge aber flog Jürgen Grabowski aus der Mannschaft. Ich empfand dies als große Ungerechtigkeit, aber wenigstens durfte Bernd Hölzenbein jetzt stellvertretend für mich mitspielen. Und gegen Schweden wurde Grabi eingewechselt. Wir waren irgendwo auf einem Ausflug und ich bekam von diesem Spiel in einer Gaststätte immerhin sein wichtiges Tor zum 3:2 mit. Grabowski. Natürlich. Es folgte das Regenspiel in Frankfurt gegen Polen und ein paar Tage später das Finale in München. Hölzenbeins legendärer Auftritt im Strafraum der Holländer, Grabowskis Vorarbeit zum 2:1. Grabowski, Bonhof, Müller. Deutschland wurde Weltmeister. Frankfurt wurde Weltmeister. Ich wurde Weltmeister. Nach Abpfiff schoss mein Vater vom Balkon aus mit seinem Jagdgewehr in die Luft. Er, der Inbegriff der Seriosität, des Verlässlichen, nie wieder erlebte ich später solch einen Moment der Unvernunft. Schade. Kurz darauf trat Grabi aus der Nationalmannschaft zurück und ich war geknickt.
Einige Wochen später wurde Eintracht Frankfurt Pokalsieger. Natürlich mit Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein. Ich schaute das Spiel bei offener Terrassentür – es war das erste Eintrachtspiel, welches ich in voller Länge sah und etliche sollten folgen, davon ahnte ich damals allerdings nichts. Mein Opa hatte einen Garten am Bornheimer Hang, in dessen Hütte es Unmengen von Fußballzeitungen gab. Mannschaftsbilder von Röchling Völklingen, Spvgg Bayreuth, Bayern Hof oder der Spvgg Erkenschwick gehörten zu meinem Alltag. Natürlich auch der FSV Frankfurt, das Stadion lag einen Steinwurf vom Garten entfernt. Und mein Opa war Ordner beim FSV. Wie auch immer er dazu kam. Und am 12. Januar 1975 nahm er uns zu einem Freundschaftsspiel des FSV gegen die Eintracht mit. Die Erinnerungen an diesen Tag verblassten mit den Jahren, doch sicher ist: Das erste Eintrachttor, welches ich im Stadion sah, schoss, natürlich, Jürgen Grabowski. Die Eintracht gewann 2:0 – und holte sich im Mai in Hannover gegen den MSV Duisburg zum zweiten Mal den Pokal. Ich verfolgte das Spiel im Autoradio eines alten NSU Prinz auf dem Weg zum Wochenendhaus meines Kumpels Martin, der auch viel zu früh gestorben ist.
Die folgenden Jahre war das Spiel der Eintracht durch Jürgen Grabowski geprägt, er, der vom Rechtsaußen nun endlich in die zentrale Rolle des Spielmachers geschlüpft war, dominierte den Fußball wie kein zweiter. Das Wort „Grabowski“ klang für mich magisch, Wohl und Wehe der Eintracht, aber auch von mir, hingen von ihm ab. Niederlagen der Eintracht waren für mich unbegreiflich. WIR haben doch Grabowski. Im März 1976 sah ich mein erstes Bundesligaspiel. Opa hatte uns wie auch immer ins Stadion gebracht, mein Vater war dabei, und die Eintracht besiegte den OFC mit 1:0. Torschütze seinerzeit: Klaus Beverungen. Aber Grabowski und Hölzenbein waren dabei. Ein paar Monate später ist mein Opa völlig überraschend gestorben. Anders als der Tod meines Mömlinger Großvaters, traf mich dessen Tod bis ins Mark. Es war das Ende meiner Kindheit. Große Traurigkeit zog ein in mein Herz, die Welt war eine andere. Gekickt habe ich seit Ende 1974 bei der SG Dietzenbach, aber ein Künstler auf dem Platz wurde ich nie. Einsatzwille und Kopfballstärke waren meine Joker.
So vergingen die Jahre und Grabi zog die Fäden im Mittelfeld der Eintracht, elegant, souverän, ohne Firlefanz – und wir wussten, solange Grabowski spielt, gibt es im Leben einen Trost und eine Hoffnung. Und selbstverständlich vergeigte Deutschland das Finale der EM 1976, Grabi war ja nicht mehr dabei, da nutzte auch Hölzenbeins Tor im Halbfinale nichts. Und 1978 half alles Bitten und Betteln nichts, Grabi blieb bei seinem Rücktritt und Deutschland ging gegen Österreich baden. Damals, in Argentinien. Von der politischen Lage wusste ich damals nichts. Für mich war wichtig, dass wenigstens Hölzenbein gegen Österreich getroffen hatte. Und Grabi spielte ja weiterhin für die Eintracht – bis zu jenem verhängnisvollen Nachmittag des 15. März 1980. Die Eintracht spielte am 25. Spieltag gegen Gladbach und der blutjunge Lothar M. grätschte Grabi kurz vor Ende rüde über den Haufen. Es war die Zeit, in der ich entweder selbst Samstags kickte oder die Radioübertragungen im Hessischen Rundfunks anhörte, nur hin und wieder konnte ich ins Stadion. Wo ich an jenem Tag war, weiß ich nicht mehr. Natürlich hatten wir die Hoffnung, dass Grabi bald wieder auf dem Platz stehen würde, eine Eintracht ohne ihn kannte ich nicht – und war im Grunde undenkbar. Doch es sollte anders kommen. Zunächst wurde Rigobert Gruber für ihn eingewechselt, dann trafen Cha und Karger zum 5:2 Endstand. Nie wieder sollte Jürgen Grabowski in einem Pflichtspiel für die Eintracht auflaufen können. Nicht in den beiden Uefa-Cup-Spielen gegen die Bayern und auch nicht in den Finalpartien gegen jene Gladbacher, deren Lothar M. dafür gesorgt hatte, dass die Frankfurter Fußballwelt eine andere wurde. Beim Rückspiel gegen Gladbach war ich im Stadion, die Eintracht egalisierte die Hinspielniederlage durch Fred Schaubs Treffer und errang ob der Auswärtstor-Regelung erstmals den Uefa-Pokal. Hölzenbein nahm den Pokal in Empfang – und überreichte ihn unmittelbar darauf dem neben ihm in brauner Lederjacke stehenden Grabi. Wir brüllten „Grabowski, Grabowski“ und wussten, dass es nie wieder so sein wird, wie es einmal war.
Jahre später, es muss 2005 gewesen sein, habe ich Grabi erstmals für eintrachtfans.tv interviewt – was habe ich gezittert. Ich glaube, die Lederjacke hing damals noch im Keller. Es war meine erste direkte Begegnung mit Jürgen Grabowski. Etliche weitere sollten folgen, meist kurz im Museum oder bei Heimspielen im Stadion. Von eminenter Bedeutung für mich waren jedoch zwei Interviews, die ich führen durfte. Das erste im September 2008. Es war die dritte Veranstaltung aus der Reihe „Tradition zum Anfassen“ im Eintracht Museum. Als Moderator durfte ich mit Alfred Pfaff und Grabi die beiden Größten begrüßen, Bernd Hölzenbein möge es mir verzeihen. Gute zwei Stunden plauderten wir über die Karrieren der beiden Weltmeister, über Pfaffs verschossenen Elfmeter in Regensburg „Ich habben net verschosse, der hatten gehalde“ und über Grabis Zeit in Biebrich, die WM in England, die Erkältung nach der Fahrt im Triumph Cabrio, seinem ersten schicken Wagen – und über seine Zeit bei der Eintracht. Ich hatte mir extra einen flotten Leinenanzug gekauft, Grabi kam in Jeans und Bomberjacke. Und er gab sich locker, vielleicht nicht ganz so jovial, wie ich Holz kennen lernen sollte. Und er machte trotz des Wissens, dass er Jürgen Grabowski ist, aus seinem Hadern keinen Hehl, wusste bis damals nicht, ob es ein Fehler gewesen sei, die WM 1978 abzusagen. Er reiste dann letztlich doch nach Argentinien. Mit Hartmut Scherzer als Kolumnist für die Abendpost Nachtausgabe. Und teilte sich mit ihm dort ein Doppelzimmer
Für das zweite Interview trafen wir uns ein paar Jahre später im Museum. Unser Thema war diesmal: Grabi und die Autos. Und es leuchteten die Augen. Auch wenn Jürgen Grabowski die großen Auftritte, die Selbstinszenierung nicht behagte – Autos waren seine große Leidenschaft. Der Triumph, ein Bitter CD, Mercedes, Chrysler. Auch wenn es ihm ein bisschen peinlich war. Für den WM-Sieg 1974 bekam jeder Spieler ein grün-schwarzes VW Cabrio geschenkt, wo das seinige abgeblieben ist, wusste er leider nicht, Wir schenkten ihm als Dankeschön ein maßstabsgetreues Wiking-Modell. Ich glaube, er hat sich gefreut. Für die Vorbereitung des Treffens, führten wir einige Telefonate. Einmal hatte ich seine Stimme auf dem Anrufbeantworter: Grabowskiiiiii, meldete er sich. Und ich Trottel habe die Nachricht aus Versehen gelöscht. Zu seinem 70. Geburtstag schenkte ich ihm eines meiner Bücher. Der Andermacher. Der Geburtstag wurde im Businessbereichs des Stadions groß gefeiert, zu spät habe ich gemerkt, dass Sachgeschenke nicht erwünscht waren, sondern eines Spende für einen guten Zweck erbeten wurde. Ob er jemals reingeschaut hat, habe ich nie erfahren
Die letzten Wochen hat Jürgen Grabowski gelitten, Matze hatte mich auf dem Laufenden gehalten. Und so hat mich die Nachricht, dass Jürgen Grabowski am 10. März 2022 gestorben ist, zwar schockiert, aber nicht überrascht. Die Fahnen im Stadion wurden auf Halbmast gesetzt – und Eintracht Frankfurt nahm zwei Tage später beim Spiel gegen den VfLBochum Abschied vom Größten, der je für die Eintracht gespielt hat. Niemals zuvor war es so still im weiten Rund als bei der Schweigeminute für Jürgen Grabowski. Die Mannschaften standen um den Mittelkreis, vor der Eintracht lag Grabis Trikot auf dem Rasen. Es schien, als hätte die Welt für einen Moment aufgehört zu atmen.
Danke Grabi. Für alles.