Mittwoch, 06:25 Uhr. Ich marschiere dezent müde die Wiesenstraße hinunter Richtung Bornheim Mitte. Die Marktbeschicker sind früh auf den Beinen und richten ihre Stände für den allmittwöchlichen Wochenmarkt her. Erstmals seit über einem Jahr werde ich mich mal wieder in eine U-Bahn setzen. Es ist für einen guten Zweck: Ich habe meinen ersten Impftermin.
Unten an der Bahn ist nicht viel los – und in mir fühlt es sich an wie Urlaub. Wieviele Reisen haben hier begonnen, haben hier geendet? Und ähnlich wie bei frühen Flügen war ich am Vorabend leicht nervös und die bange Frage lautete: Ob ich rechtzeitig wach werde? Und wie immer hat es geklappt. Doch heute führt mich mein Weg nicht Richtung Flughafen. Es geht in die Festhalle. Dort sah ich vor Jahrzenten Queen mit Freddy Mercury. Oder AC/DC auf ihrer ersten Tour mit Brian Johnson. Mit der Vorband Whitesnake, es war meine Heavy Metal-Phase. Mit den ersten Glockentönen, als AC/DC die Bühne betraten, erhob sich ein Gedränge und ich ließ mich von den Ordnern aus der ersten Reihe über die Gitter ziehen. Den Rest verbrachte ich dann weiter hinten. Es ist nicht immer alles glatt gelaufen in diesem Leben. Immerhin konnte ich in der Festhalle auch David Bowie, Cure oder Placebo sehen. Damals. Nun ist die Option auf die Impfung eine der wenigen Hoffnungen, hier wieder mal eine der Bands zu sehen, wobei ich zugeben muss, dass die allermeisten Kapellen, die ich bevorzuge in eher kleineren Schuppen spielen. In viel kleineren. Oder besser: Spielten.
Keine Viertelstunde später erreiche ich erstmals im meinem Leben die Festhalle unterirdisch. Ein schnelles Foto, eine kurze Orientierung. Kaum jemand ist hier. Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass es Massen sind, die nun Richtung Impfzentrum strömen. Der untere Eingang ist noch geschlossen, ich nehme die Rolltreppe. Blicke in einen klarblauen Himmel, der Messeturm wächst in die Höhe und spiegelt sich im Kastor Gebäude, der Hammering-Man hämmert stoisch in den Tag – und weiß nichts von den Wirrungen des Daseins, die ein gekanntes Leben von einer Spritze abhängig machen, von kurzfristig entwickelten Impfstoffen, die für soviel Diskussionen gesorgt haben. Ich bin eigentlich kein Freund von Medikamenten, selbst nach einer durchzechten Nacht nehme ich kein Aspirin. Aber ich glaube, ich habe keine andere Wahl, wir haben keine andere Wahl, wollen wir uns nicht selbst und andere gefährden. Möge es gut gehen.
15 Minuten vor dem vereinbarten Termin bin ich vor Ort – und betrete mit einer gewissen Ehrfurcht die Festhalle. Heute spielt hier kein Bowie, heute spielt BioNTech, dafür ist der Eintritt frei. Meine gesammelten Unterlagen trage ich fein säuberlich in einer Klarsichtfolie bei mir, sogar zwei Impfpässe habe ich dabei. Der erste, den ich seit meiner Geburt besitze und einen zweiten, den ich nach Impfungen für meine Indienreise 2004 bekam, weil ich den alten verlegt hatte. Also los.
Gleich am Eingang empfängt mich ein Helferlein, dass ich 15 Minuten zu früh bin, ist kein Problem. Ich möge hier warten und warten, bis der Aufruf für die 7:15 Uhr Impflinge kommt. Und kaum will ich mich setzen, kommt der Aufruf. Ein überschaubarer Trupp Menschen setzt sich in Bewegung, wir wandern ein paar Meter durch die Gänge zur nächsten Station. Ich bekomme einen Platz zugewiesen, ein freundlicher junger Mann checkt meine Unterlagen und fragt mich, ob ich aufgeregt sei. Ich antworte ihm, dass die größte Aufregung darin bestand, den Wecker nicht zu überhören, wir lachen. Die Stimmung ist entspannt, er drückt mir die Laufkarte in die Hand und weiter geht es durch klar definierte Wege Richtung Halleninneres. An jeder Ecke steht jemand und weist dir den Weg, Top-Orga, da gibts mal nix. Dann sitze ich vor einem weitern Helfer, der meine Dokumente checkt und meine Krankenkassenkarte einlesen will, was nicht wirklich funktioniert. Ich scheine aber nicht der erste und wohl auch nicht der letzte zu sein. Der Helfer gibt meine Daten manuell ein und ich betrachte versonnen die Kuppel der Halle. „We can be Heroes, just for one day“ klingt es in meinem Kopf und ich erinnere mich dran, dass Bowie, als ich ihn damals sah, seine elektrische Phase hatte und auch die alten Lieder neu interpretierte. War jetzt nicht so toll. Kaum denke ich dies, erhalte ich meine Unterlagen retour und wundere mich, dass der ganz alte Impfpass heute hier die Hauptrolle spielen wird. „Der neuere ist nicht international“ klärt mich mein Gesprächsparter auf. Siehste mal, hätte ich jetzt so auch nicht gedacht. Dann geht’s auf klaren Wegen weiter. In der Halle sind kleine Straßen voller Impfkabinen aufgebaut. Ich werde zur Reihe C geschickt und kann mich auch gleich auf einen Stuhl vor Kabine C8 hocken. Neben mir sitzen andere Menschen und warten, aber niemand spricht. Ein paar Minuten später öffnet sich die Kabinentür, mein Impfmeister bittet mich herein. „Ah, Biontech“ sagt er, ich erwidere „Joa, aber ich hätte alles genommen“. „Gute Einstellung“ die Antwort. Die Langzeitwirkung kann ja eh niemand serös abschätzen, also hau rein. Ich lege die Jacke auf einen Stuhl, ziehe mein Pulli aus, während mein Impfmeister mich fragt, ob ich Angst hätte und mir den Ablauf erklärt. Ich bin angstfrei, also rein damit. Sagen wir so: Von den Myriaden von Mückenstiche im Garten war jeder einzelne nerviger als die Spritze. Es ist 7:21 Uhr am 5. Mai 2021. Ich bin Erstgeimpft. Der Impfmeister zieht weiter, ein anderer füllt meinen Impfpass aus und erklärt mir die nächsten Stationen, es sind deren drei. Einerseits geht’s in den Wartebereich, dann zum Dokumentenscan, anschließend zur Unterschrift des Arztes. Danke prima, schönen Tag noch.
Der Wartebereich besteht aus weißen Stühlen, die abstandsgemäß aufgereiht sind, ich fühle mich tatsächlich an die Momente erinnert, als ich auf das Boarding wartete. Von dort führt ein durch Absperrband abgegrenzter Weg zu den Kabinen des Dokumentenscans. Ein weiterer Impfhelfer erklärt mir kurz, dass es in meinem Ermessen läge, zu warten, wie ich auf den Impfstoff reagiere. „Warum nicht mal auf jemanden hören?“ Also setze ich mich auf einen Stuhl und warte, was in mir passiert. Es sind bei Weitem nicht alles Stühle besetzt. Im Gang zu den Kabinen steht niemand. In mir passiert nichts, die ersten, die schon länger warten, brechen auf Richtung nächster Station. Und es ist tatsächlich wie beim Boarding. Kaum haben sich die ersten in Bewegung gesetzt, folgen die anderen wie von Geisterhand gezogen. Angstvolle Blicke beobachten die nun langsam anwachsende Schlange. Immer mehr Menschen stehen auf. Ich beobachte kurz, die Geschwindigkeit, in der sich die Schlange bewegt, es geht zügig vorwärts. Es muss ja auch niemand sein Gepäck im übervollen Gang verstauen. Da ich immer noch keine Reaktion verspüre, reihe ich mich brav ein, und stehe ein paar Minütchen später an einem weiteren Schalter. Zwei junge Frauen begrüßen mich freundlich, eine der beiden wird gerade angelernt, es dauert ein bisschen länger als bei den anderen, aber es geht alles problemlos seiner Wege. Von hinten ruft es: „Gude, Beve“. Immer ruft es von irgendwo her: „Gude Beve“, das mag ich. Ich grüße brav zurück, Corona-Faust. Das nächste mal werden wir uns wohl wieder in einem Stadion irgendwo in Deutschland oder Europa sehen. Er in der ersten Reihe, ich ganz oben.
Als ich meine Dokumente wieder beisammen habe, gebe ich meine Laufkarte ab und warte noch ganz kurz auf die Unterschrift einer Ärztin, die stante pede erfolgt. Klar strukturiert geht es dann wieder zurück zum Ausgang, neue Impflinge kommen mir entgegen, jede/r einzelne auf dem Weg zurück in ein normales Leben. Hoffentlich. Ich verstaue meinen Krempel und nehme den unterirdischen Ausgang, der mittlerweile geöffnet ist. Die U4 rauscht prompt an, verschluckt mich und spuckt mich Punkt 8 Uhr wieder in Bornheim Mitte aus. Einen kurzen Abstecher zu Baguette Jeanette und zwei Croissants später wandere ich wieder die Wiesenstraße hinauf, laufe am Park vorbei und drücke die Klingel bei uns am Haus. Pias Stimme erklingt: „Wer da?“ fragt sie, ich antworte. „Hier spricht ein Geimpfter“. Dies waren auch die ersten Worte meines Vaters vor ein paar Wochen, als er mich nach seiner ersten Impung anrief. Der Türsummer ertönt. Und ein bisschen komme ich mir vor, als würde ich nach einer Reise ins Ungewisse wieder nach Hause kommen. Genau genommen, war es ja auch so.