Ich fahre mit dem alterschwachen Dacia raus in den Taunus. Kaum bin ich auf der Miquelallee, fallen die ersten Tropfen, langsam schwappen die Wischer über die Scheibe – immerhin, nach ein paar Kilometern hört der Nieselregen auf. Aus den Lautsprechern kniedelt russischer Postpunk. Ich muss raus. Raus aus der Stadt, weg vom Rechner.
Noch hinter Königstein ist es grau, erst kurz vor der Abzweigung Richtung Schmitten zeigt sich der erste Schnee – und mit jedem Meter wird es weißer. Unglaublich, nur wenige Kilometer hinter Frankfurt offenbart sich eine andere Welt, ich parke den Dacia vor dem Gasthaus zum Roten Kreuz und laufe rechter Hand in den Wald. Waren wir neulich noch an den Reifenberger Wiesen, so geht es heute hoch Richtung Feldberg, die Wege sind eisig, die Bäume dick eingeschneit, der alte Mantel wärmt. Ich mag die grau-melancholische Schneestimmung an Tagen, an denen die Sonne kaum durchdringt, sie passt zur Zeit, der Schnee vermag seltsamerweise die Gedanken zu wärmen. Unterhalb des Weges liegt weiß überzogen das alte Römer-Kastell, weiter oben passiere ich die Weil-Quelle und wandere über die vereisten Wege Richtung Großer Feldberg. Zwei Mountainbike-Fahrer kommen mir ungelenk entgegen, ansonsten ist es ruhig. Doch je näher ich dem Großen Feldberg komme, desto mehr Menschen begegne ich. Man grüßt sich im Wald. Mal tollen Hunde umher, mal staksen Spaziergänger an mir vorbei. Jetzt liegt der Gipfel über mir, einige Meter entfernt eine Rodelbahn. „Mach mal von der Mama ein Foto“, ruft eine männliche Stimme, doch sie meint nicht mich. Dennoch verwerfe ich den Plan, auf’s Plateau zu marschieren. Es war wohl ein naiver Gedanke zu glauben, man hätte an einem Freitagmittag gegen 12 auf dem Gipfel halbwegs seine Ruhe. Eigentlich hat man nie seine Ruhe, das ist bedauerlich. Überall ruft jemand in deine Hirnwindungen: „Mach mal von der Mama ein Foto“. Oder es ruft: „Bleib zu Hause“. Oder sonst irgend etwas. Egal ob im Wald oder in den sozialen Medien. Sie rufen dir dauernd irgend etwas zu. Die völlig verblödeten rufen dir zu, dass es kein Virus gibt. Die Gewieften rufen dir zu: „Klar gibt es ein Virus, wir müssen was machen. Aber erst musst du kaufen“. Nachdem sie zuvor wie auch danach nichts anderes im Sinn hatten, als dich für ihre Zwecke zu belügen. Die Hysterischen brüllen dich an, dass alles ganz fürchterlich ist und zelebrieren ihre Lust am Untergang, in dem sie einmal was zu sagen haben und sie schwatzen und schwatzen und salbadern sich in ein rauschhaftes Belehrungsritual, vergleichen alles mit allem und haben inquisitorisch recht. Sie wollen immer recht haben. Die Bösen machen keinen Hehl aus ihren Plänen, die Guten wundern sich, weshalb denn jetzt auch noch Marat, Danton und Robespierre tot sind, das waren doch einmal wir – die sich später gegenseitig umbrachten, Stalin winkt im Spiegel. Der Rest verzweifelt. Die Revolution frisst ihre Kinder, es wohnt im Keim. Was man nicht so alles denkt, wenn man durch den Schnee läuft. Später kommt mir einer auf Langlaufskiern entgegen.
Hinten am Kleinen Feldberg wird es merklich ruhiger, ich umrunde ihn, ein Vater schiebt einen Kinderwagen über die eisigen Wege, die Frau Mama nebenan. Leise murmle ich vor mich hin: „Mach mal von der Mama ein Foto“, und drehe noch eine Runde Richtung Fuchstanz bis ich kehrt mache und durch die Winterwelt zurück zum Roten Kreuz wandere. Manchmal muss ich aufpassen, nicht auszurutschen. Wie im Leben. Auf den letzten Metern flockt leise der Schnee, der am Auto in leichten Regen übergeht. Ich lege den Mantel auf die Rückbank. Drinnen läuft russischer Postpunk, draußen ist’s ungemütlich. Es war ein schöner Tag.