Es versprach ein sonniger Herbsttag zu werden, zumindest was das Wetter angeht. Zwei Alternativen standen parat. Einerseits den sogenannten „Querdenkern“ Paroli bieten, die sich in Frankfurt zu einer Trotteldemonstration angemeldet hatten, andererseits wollte ich schon länger mal einen Rundweg durch den Wald bei Grävenwiesbach laufen. Da wir keine große Lust auf Menschenmassen und Wasserwerfer hatten, entscheiden wir uns für letzteres. Wie sich im Nachhinein herausstellte, keine schlechte Idee.
In dem nunmehr nur noch antiquarisch erhältlichen Büchlein Der Ausflug in den Taunus hat Elvira Klein etliche Rundgänge durch den Taunus zusammengestellt. Einer davon beginnt in Grävenwiesbach und führt über die Eschbacher Klippen zurück zum Ausgangspunkt. Heißt es im Büchlein noch, dass parken am letzten Gebäude des Mönchwegs, einer Schule, am Wochehende möglich wäre, so ist dies heute nur noch bedingt richtig. Parken klappt zwar tadellos, doch schließt sich nunmehr ein Neubaugebiet an der Astrid Lindgren Straße an. Zuvor versorgten wir uns in einer Wehrheimer Metzgerei noch mit Tagesproviant. Der Dacia ächzte sich die Hügel nach oben, die wenigen Überholmöglichkeiten wurde von den nachfolgenden Fahrzeugen redlich genutzt. Help me down, help me down – Think I need some steady ground – Let me loose and hang around – In the corners of my heart sangen The Bronze Medal. Manchmal geht es dem Dacia wie mir. Am Berg geht ihm die Puste aus, er ist leicht zerdellert – aber er kommt an. Und Musik funktioniert.
Vom Parkplatz an der Schule geht es hoch an den Waldrand, vorbei an ein paar einsamen Häusern, unten quert eine Bahntrasse. Ein letzter Blick ins Tal, dann geht es in den Wald. Hie und da grüßt ein Spaziergänger, ansonsten ist es ruhig. Die ersten Meter führen ordentlich nach oben, für den Mantel ist’s zu warm, die Fototasche eigentlich zu schwer. Zumal das Licht nicht schön zum fotografieren ist. Wir passieren die Meineidsbuche im Wald, ein Gedicht erinnert an einen mächtigen Hirsch, der nach langem hin und her erst verfolgt, dann erlegt – und dann gestohlen wurde. Der Wald zeigt sich düster herbstlich, noch hängen gelbe Blätter an den Bäumen. Je weiter es nach oben geht zeigen sich lichte Stellen, ob ein Sturm dafür verantwortlich war? Außer dem ein oder anderen Mountainbiker begegnen wir keiner Menschenseele und da der Weg gut beschrieben ist, finden wir uns problemlos zurecht. Zumal Wegweiser immer wieder auf die Ortschaften der Umgebung verweisen. So sie die Dorfjugend nicht verstellt hat.
Wir nähern uns den Eschbacher Klippen und alsbald tauchen auch die ersten Wanderer aus Nebenwegen auf. Ein Schild zeigt, dass es noch knapp über einen Kilometer bis zu den schroffen Felsen ist. Und kaum haben wir es gelesen, passieren wir den mächtigen Kaiserin-Friedrich-Felsen, der von den Bäumen fast verdeckt wird und landen am gut gefüllten Parkplatz an der Landstraße, die wir überqueren. Mit uns läuft eine kleine Gruppe, zwei Jungs, zwei Mädels. Die jungen Frauen mit gepflegtem blonden Haar, die Jungs schleppen Taschen mit Fotoequipment. „Instatrottel“, wie Pia zu sagen pflegt. Nach ein paar Metern erreichen wir die Klippen. Rückwärtig im Schatten wird in sonnigen Bereichen gepicknickt, Kinder mit Erdbeermützchen klettern über die Felsen und die Instacrew sucht sich ein fotogenes Plätzchen. Wir kraxeln ein paar Meter die Steine nach oben und sitzen in der Sonne. Halbzeit.
Als wir später den Felsen umrunden, treffen wir die Instagang wieder. Schön das Füßchen nach oben gezogen das Mädchen, der Bub jetzt in anderer Kleidung, werden sie fotografiert. Im Schatten – während auf der anderen Seite die Sonne den Fels in ein feines Licht taucht. Dort hängen Kletterer in den Seilen. Wir lassen sie dort hängen und wandern auf einem anderen Weg zurück in den Wald, machen uns an Schautafeln über die Waldameise schlau, sitzen auf einem schmalen Rentnerbänkchen und landen nach einigen Kilometern an der Rentnerhütte mitten im Wald. 2008 von Eschbacher Rentnern erbaut, bietet die Holzhütte einen feinen Unterschlupf mit Sitzkissen und Fotos der Rentner, die sich 1982 zusammengeschlossen hatten – und bis heute ihren Treffpunkt im Wald haben. Sogar Flaschenöffner hängen in der Hütte. Für die Kids liegt ein in Folie verpacktes Buch in einem Eimer. Wir hätten fast die Schuhe beim Betreten ausgezogen.
Als wir nach einer Weile den Wald verlassen, erwischen wir den Nachmittag von seiner schönsten Seite. Die Herbstsonne bescheint die Wiesen und Felder und Hochsitze, Grävenwiesbach liegt im Tal, als könne es kein Wässerchen trüben, Spaziergänger grüßen freundlich und ein Trecker mit Deutschlandfähnchen treckert an uns vorbei. Am Horizont drehen Windräder majetätisch ihre Runden. Durch einen Eisenbahntunnel geht es über einen Feldweg zurück ins Neubaugebiet. Erich-Kästner-Straße, Otfried-Preußler-Straße, Astrid-Lindgren-Straße. Die Namen erinnern an Kinderbuchautoren, an glückselige Tage mit großen Träumen in kurzen Hosen, an Limonadenbäume und fliegende Klassenzimmer. Die Wirklichkeit erinnert uns an freistehende Einfamilien-Wohnbunker, davor freistehende Einfamilien-Wohnautos. Die Vorgärten: Steine. Die Zäune: Steine. Die Abgrenzungen: Steine. Reichtum und Geschmacklosigkeit geben sich bei nahezu jedem Haus die Hand. Noch ist die Terrasse nicht fertig umsteint, steht schon der drei Meter breite Webergrill darauf. Hätten die Kinder soviel Platz wie die Autos, Astrid Lindgren würde sofort ein Buch darüber schreiben. Welch Kontrast zu den Herbstblicken auf die Felder und Bäume dahinter. Bullerbü ist tot.
Wir spazieren die letzten Meter zur Schule, die Sonne geht langsam unter. Müde lassen wir uns auf die Sitze fallen – und fahren über Usingen gemächlich in den Frankfurter Herbstabend. Dark Suzanne – It’s you I miss – Wherever you are – I feel your bliss – I reach the stars – In the night singen The Beauty of Gemina. Die letzten Strahlen der Sonne, bevor sie hinter den Waldbäumen verschwindet, jetzt glänzen die roten und weißen Lichter der Autos in die Dunkelheit. Samstagabend auf der A661, Frankfurt ist unterwegs.
Später lese ich im Netz die Tagesereignisse nach. Die „Querdenkerdemo“, die Wasserwerfer auf die Gegendemonstranten, die den „Querdenkern“ erfolgreich aber unter erschwerten Bedingungen den Tag vermasselt haben. Frankfurt ist stabil geblieben, auch wenn uns nach über 16 Fußkilometern die Beine schwer geworden sind. Spät in der Nacht läuft im WDR noch der Film Treffer von 1984, ein frühes Werk von Dominik Graf mit dem blutjungen Dietmar Bär und der viel zu früh verstorbenen Barbara Rudnick. Großartig. Dann falle ich in einen traumlosen Schlaf.