Die letzten Minuten des Spiels der Eintracht in Basel verdämmer ich vor dem TV im Halbschlaf. Kurz vor Schluss steht es 0:0. Die Eintracht hätte fünf Monate nach dem Hinspiel ein 0:3 aufholen müssen. Jenes 0:3 im Frankfurter Stadtwald, das eine Zäsur bedeutete. Es war das erste Heimspiel nach dem Einbruch des Coronavirus SARS-CoV-2. Das erste Heimspiel ohne Zuschauer.
Als die Eintracht am 12. März 2020 gegen Basel spielte, saßen wir im Nachtbus von Bangkok nach Ranong. Ohne Internet. Erst am nächsten Morgen erinnerte ich mich daran, dass die Eintracht ja in der Nacht thailändischer Zeit gespielt hatte. Ein Blick ins Handy. 0:3. Oha. Aber wir hatten andere Sorgen. Kommen wir von Ranong weiter? Wie entwickelt sich das Virus? Kommen wir wieder nach Hause?
Etwas über zwei Jahre ist es jetzt her, dass die Frankfurter Eintracht am letzten Spieltag der Saison 2017/18 die Europapokalteilnahme noch verspielte. Ein 0:1 in Gelsenkirchen und zeitgleiche Siege von Leipzig und Stuttgart ließen den Club noch auf den 8. Platz zurück fallen. Der VfB bejubelte in der Kabine den Einzug in den internationalen Wettbewerb. Zu diesem Zeitpunkt stand fest, dass Trainer Niko Kovac die Eintracht Richtung Bayern München verlassen wird. Einzig das bevorstehende Pokalfinale gegen eben jene Bayern stand noch bevor. Ein Sieg hätte den Einzug in den Europapokal bedeutet. Doch wer glaubte schon an die Eintracht, wo die Stimmung ob des Abgangs von Kovac und der leichtfertig verspielten Europacupteilnahme im Keller war. Schon gar nicht der VfB Stuttgart.
Und dann kam jene magische Nacht in Berlin. Die Sternstunden von Ante Rebic. Der Videobeweis eingedenk des nicht gegebenen Elfmeters durch Felix Zwayer, der bei anderer Entscheidung den wahrscheinlichen Ausgleich in letzter Sekunde für die Bayern bedeutet hätte und damit die Verlängerung und das vermutliche Aus für die Eintracht. Die anschließende Ecke, heraus geköpft von Jetro Willems, der Lauf von Mijat Gacinovic. 70 Meter ins Glück. Das 3:1. Der Pokalsieg. Nach 30 langen Jahren ein Titel für die Eintracht.
Niemand der diese Momente miterlebt hat, wo auch immer, wird sie jemals vergessen. Noch beim Schreiben stellen sich die Härchen auf. Jeder Eintrachtler hat diese Bilder immer und immer wieder gesehen. Und wird sie immer und immer wieder ansehen. Es war wohl das Größte, was Eintracht Frankfurt in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Was für Deutschland der WM-Sieg von 1954 war, ist für die Eintracht der Pokalsieg 2018. Und darüber hinaus. Wir mussten keine Schuld nivellieren. Nur unzählige verpasste Chancen. Am heftigsten die von 1992 – als der schon sicher geglaubte Meistertitel an der Ostsee verspielt wurde.
Der VfB war durch den Pokalsieg der SGE aus den Europapokalplätzen gepurzelt, Leipzig musste in die kräftezehrende Qualifikation. Mit Spannung wurde die Auslosung erwartet – und wir erwischten eine fantastische Gruppe. Marseille, Limassol und leider das falsche Rom. Zu allem Überfluss aber war Olympique Marseille aufgrund von Fanausschreitungen zu einem Geisterspiel verdonnert worden. Ausgerechnet gegen die Eintracht. Uns traf dies nicht ganz so hart, hatten wir doch ohne den Europacup zu berücksichtigen Urlaub auf Korfu gebucht, konnten also so oder so nicht vor Ort sein.
In der Taverne Julia saßen wir vor dem TV, vor uns rauschte das Meer – und der Eintracht gelang tatsächlich der Auswärtssieg. Wer hätte das gedacht, nach dem 1:5 im Supercup und dem peinlichen Aus im Pokal beim SSV Ulm? Ein paar Wochen später machte sich die nunmehr legendäre „Reisegruppe Zypern“ auf den Weg. Etliche Eintrachtler trafen sich in einer Hotelanlage in Nordzypern, machten die Nacht zum Tag und verbrachten dort einige herrlich entspannte Tage. Das Spiel selbst fand in Nikosia statt. Wir mieteten uns einen Kleinbus und ließen uns über die Grenze bringen. Ein paar wollten mit anderen Pässen, mit denen sie ins Land eingereist waren, in den Süden. Dies ging nicht. Also hieß es für sie: Zurück ins Hotel. Aber pünktlich zum Anpfiff waren sie wieder da.
Im regnerischen Rom ging es gegen das teilfaschistische Lazio. Fans wurden die Schals abgenommen, der Einlass dauerte Stunden, römische Nazis wollten in unsere Kurve und provozierten uns Hand in Hand mit den Sicherheitskräften. Die Stimmung drohte zu eskalieren. Es war Gacinovic‘ Treffer zum Ausgleich, der die Situation beruhigte. Hallers 2:1 bedeutete den Endstand. Die Eintracht war ungeschlagen in die nächste Runde eingezogen.
Es ging in die Ukraine gegen Schachtar Donezk, erst nach Wochen stand ob der politischen Situation der Austragungsort fest. Charkiv. Ein paar Kilometer vor der russischen Grenze. Unvergessen die Bahnfahrt durch das verschneite Land von Kiew nach Charkiv. Der nächtliche Marsch vom Stadion in die Unterkünfte über vereiste Wege, als nichts mehr fuhr und die Stadt im Dunkel lag. Davei, davai. Uh. Später mit Freddy in Kiew. Die Dali-Ausstellung.
Und schon saßen wir im Dacia auf dem Weg nach Mailand. Die Eintracht im Giuseppe Meazza. Sonnenschein und Auswärtssieg. Nur die Raketen auf dem Rasen trübten die Freude dann doch gewaltig. Es sind immer die Wermutstropfen, die einen schwarzen Klecks ins bunte Bild tröpfeln. Auf dem Rückweg mit dem Handy die Flüge nach Lissabon gebucht. Tejo, Alfama und ein aus dem Stadion fliegender Adler.
Im Rückspiel brach die Frankfurter Hölle über Benfica herein. Das 2:0 bedeutete den Einzug ins Halbfinale, das Endspiel lag greifend nah. In London. Gegen Chelsea. Nur das Elfmeterschießen verhinderte einen weiteren Triumph. Hinteregger lag weinend in den Armen der Fans. Die Eintracht aber hatte in der Saison 2018/19 doch noch in letzter Sekunde den Einzug in eine weitere Europapokalsaison geschafft. Zuhause in Europa. Noch im Sommer zerbrach die „Büffelherde“, die uns ein Jahr begeistert hatte. Jovic zog es nach Madrid, Haller zu West Ham. Wochen später war auch Rebic Geschichte.
Und diesmal mussten wir durch die Qualifikation. Für mich ging es über Helsinki mit der Fähre nach Tallinn. Entspannte hochsommerliche Fußballatmosphäre. Im Rückspiel beklatschten die Spieler von Flora Tallinn trotz des Ausscheidens die Eintrachtkurve. Nie gesehene Bilder machten die Runde. Weiter ging es mit dem Bus nach Vaduz. Und dann Straßburg. Giftige Atmosphäre in Frankreich. Grandiose in Frankfurt. Wieder einmal gaben alle alles – und erneut schaffte die Eintracht den Einzug in die Gruppenphase. Guimaraes, Lüttich, Arsenal.
Wir schlenderten am Douro entlang und wiederholten mit der Familie Minden in Porto den Besuch in der taylorschen Portwein Kellerei. Fliegende Stühle in Guimaraes bescherten uns eine Auswärtssperre für die Spiele in Lüttch und London. Ich hatte Glück, konnte Tickets erwischen und saß auf einmal in einem Mietbus auf dem Weg nach Belgien. Wir kamen zu spät. Aber wir waren da. In London besiegelte das auch von den Engländern bejubelte 2:1 der Eintracht den Einzug ins 16/tel Finale. Kamadas Treffer sorgten zudem für die Entlassung des ungeliebten Trainers Unai Emery.
Noch im Februar marschierten wir durch den Winterschnee in Salzburg. Die Eintracht wankte, aber sie fiel nicht. Das Spiel musste ob eines Sturms einen Tag verschoben werden. Doch am End waren wieder fast alle da. Und bejubelten den Einzug ins Achtelfinale. Noch vor dem Spiel stand der Gegner fest. FC Basel. Schwierig. Aber machbar. Und da ob der vielen Reisen bei vielen das Budget aufgebraucht war, schien auch niemand böse ob der verhältnismäßig kurzen Anreise. Für Pia und mich war klar, dass wir so oder so nicht vor Ort sein können. Unser Urlaub in Thailand stand bevor. Und wir witzelten: Wartet es ab. Wenn wir, wie in Marseille, nicht vor Ort sein können, wird niemand dort sein. Doch was dann kam, konnte niemand ahnen.
Über China verteilte sich das Coronavirus in die Welt. Und was eben noch in weiter Ferne lag, packte uns nun am Schlafittchen. Als wir in Bangkok landeten, hieß es noch: Das Heimspiel gegen Basel wird vor Zuschauern ausgetragen. Am Abend auf der Terrasse erfuhren wir das Gegenteil. Lockdown. Das öffentliche Leben in Europa und weiten Teilen der Welt war lahm gelegt, das Spiel gegen Basel fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. 0:3 hieß es am Ende. Wir betrachteten fernab der Heimat die untergehende Sonne – und mussten später zusehen, wie wir heimkommen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Alles wurde abgesagt, Monate später wurde die Bundesligasaison doch noch durch Geisterspiele zu Ende gebracht. Die Fans bleiben außen vor, die Fußballwelt wurde eine andere. Und nach langem hin und her wurde das Rückspiel in Basel auf den 6.8. terminiert. Natürlich ohne Zuschauer. Kurz zuvor gab die Eintracht den Wechsel von Mijat Gacinovic nach Hoffenheim bekannt. Die Eintrachtfanseele war bis ins Mark erschüttert. Wirklich jeder denkt nur bei Nennung des Namens an jenen Moment in Berlin, als der schmächtige Junge mit der Nummer 11 auf dem Rücken mit dem Ball durchs Olympiastadion lief und uns alle erlöste. Und jetzt soll dieser Junge für Hoffenheim spielen? Traurig.
Als ich aus meiner Dämmerung erwache, steht es 1:0 für Basel, das Ausscheiden der Eintracht ist endgültig besiegelt. Bilder schießen durch meinen Kopf. Berlin. Bruda, schlag den Ball lang. Die Reisegruppe Zypern. Rom. Wir, die Bestien laut römischer Zeitung. Vaffanculo. Davai, davai, uh. Das Café am Tejo, das Elfmeterschießen in London, die Fähre nach Tallinn, zuletzt die Hohensalzburg. Tausend Begegnungen, tausend Gespräche und kleine Geschichten. Rebic, Jovic, Haller, Gacinovic.
Es scheint, als wäre eine Geschichte zu Ende erzählt; eine Geschichte, die größer ist, als alle bislang erzählten Geschichten der Eintracht. Eine Geschichte, die nach Berlin ohne Zuschauer in Marseille begann und ohne Zuschauer in Basel endete. Eine Geschichte, die uns allen, die wir mit der Eintracht leben und leiden, unfassbare Momente beschert hat, und näher gebracht hat. Wer weiß schon, ob und wann wir wieder zum Fußball gehen können. Die Unbeschwertheit der Reisen erleben dürfen. Die Welt vor Corona ist in Basel zu Ende gegangen. Aber wir hatten sie. Und sie fehlt. Was bleibt? Eintracht Frankfurt international!
Bleibt sauber!