1981. Klassenfahrt nach Berlin. Jugendherberge am Gesundbrunnen im Wedding, wir waren 16, die jüngeren 15 – sie mussten auf dem Weg nach Ost-Berlin nur 7,50 Mark umtauschen. Immer noch genug Geld, für das Nichts, das es drüben zu kaufen gab. Aus den Boxen der Discotheken flimmerte Fade to grey von Visage. One man on a rolling platform. Provinzkinder im geteilten Berlin. Es trieb uns in die Discothek „Sound“. Der Eingangsstempel nur unter Schwarzlicht lesbar. Ein magisches Element der großen, weiten und faszinierenden Welt West-Berlins Anfang der 80er Jahre. Die Zeit der regierenden Sozialdemokratie neigte sich dem Ende entgegen.
Wir waren neugierig auf die Discothek, die berühmt wurde, weil sie eine wesentliche Etappe im kindlichen Leben von Christiane F. gewesen ist. Ein kindliches Leben, das vermeintlich so verschieden von unserem war. Das Leben der Kinder vom Bahnhof Zoo. Es war die Illustrierte „Stern“, die Ende der Siebziger Jahre die Lebensgeschichte der Christiane Felscherinow ungeschönt in die Öffentlichkeit brachte. Die Geschichte eines Kindes, wie so viele auf dem Weg von einer unwirtlichen Hochhaussiedlung im West-Berliner Randbezirk Neukölln in die Welt der harten Drogen, der (Kinder)Prostitution – niedergeschrieben von Kai Hermann und Horst Rieck. Und während die Serie „Holocaust“ etwa zur gleichen Zeit ebenjenen in die Wohnzimmer der Bundesrepublik brachte, so wurde diese Republik durch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ erstmals im Innersten mit der Drogenproblematik und vor allem Heroin berührt. Das Buch wurde ein Millionenseller, Christiane F. der unfreiwillige Popstar unter den Junkies, der sich meist der Öffentlichkeit entzog.
Die Drogentoten der Bahnhofstoiletten, die anonymen Zahlen der kleinen Meldungen in den Tageszeitungen bekamen Namen und ein Gesicht. Und eine Geschichte. Sie wurden Menschen. Dies war bemerkenswert in einer Zeit, in der gleichermaßen die ausgemergelten Juden der Konzentrationslager und die ebenso ausgezehrten Junkies ansonsten nur als anonyme verwahrloste Masse wahrgenommen wurde, von deren Geschichten man sich am liebsten fernhielt. Mit den Juden hatten man nichts zu tun, nicht mit den Lebenden und schon gar nicht mit den Toten. Den sechs Millionen ermordeten Menschen. Das waren damals die Nazis – und mit denen hatte man ebenfalls nichts zu tun. Die Junkies aber waren selbst schuld an ihrem Schicksal, Fragen nach dem „Weshalb“ wurden nicht gestellt. Sie waren keine Menschen mit Träumen und Hoffnungen, sie waren nicht Fleisch und Blut und Herz und Hirn. Sie waren Junkies und sie verreckten in den Bahnhofstoiletten. In Berlin. In Frankfurt. Selbst schuld. Was müssen sie auch Drogen nehmen. Alkohol, das ging klar. Gesoffen wurde immer und ständig. Und wenn sich der besoffene Onkel dann in der Dunkelheit über die Kinder hermachte, dann gehörte dies zwar nicht zum guten Ton, aber eigentlich ist er ja nicht so, also stell dich nicht so an. Aber Haschisch, LSD oder Heroin waren die Drogen. Vor denen gewarnt wurde. Wer soff, gehörte zum integrierten Teil der Gesellschaft, wer andere Drogen nahm, wurde außerhalb dieser Gesellschaft definiert. Ausgestoßene. Sich selbst überlassene.
Christiane Felscherinow überlebte ihre Kindheit – irrlichterte aber weiterhin durch ihr Leben. Berühmt – und nie wirklich losgekommen von harten Drogen. Alle paar Jahre gab sie ein Interview, einen Entzug, neue Ansätze, kurzes Glück, immerwährendes Behaupten. Ihre damaligen Drogenfreunde durchlebten unterschiedliche Schicksale. Während ihre erste Freundin Kessi noch in jungen Jahren den Absprung schaffte (bis zum Heroin war sie nie gekommen), landete Babsi in der Berliner Zeitung: Berlins jüngstes Drogenopfer. Mit 14.
Für mich als Jugendlichen war die Geschichte der Kinder vom Bahnhof Zoo teils ein Blick in eine völlig andere Welt. Der Blick in die Gropiusstadt, der nicht nur für Kinder lebensfeindlichen Hochhaussiedlung, in der Christiane damals wohnte, die Selbstverständlichkeit des Drogenerwerbs, die Prostitution, die Beziehung zu Detlef, der nie gefragt wurde, ob er eine solch prominente Rolle im Buch spielen wollte, ebenso wie Frank, genannt Leiche, weil er damals einem wandelndem Toten glich. Ich schwankte zwischen Faszination, Identifikation, Projektion und Ablehnung. Detlef und Frank haben ihre Kindheit ebenso wie Christiane überlebt. Und von ihrer fragwürdigen Prominenz nicht profitiert, zumindest nicht materiell. Ungefragt wurde ihr Leben einer Weltöffentlichkeit präsentiert, ob es sich wirklich so zugetragen hat, wie beschrieben? Sie konnten nicht widersprechen. Zwei Jahre später erschien der Film zum Buch, produziert von Bernd Eichinger, auch er ein Erfolg.
Erst in einer sehenswerten Doku des Spiegels über Christiane aus dem Jahr 1995 (Teil 1 – Teil 2) kommen auch Detlef und Frank zu Wort, sprechen über ihr Leben und über die Vergangenheit – ebenso wie Stella, die Freundin Babsis, welche Christiane Mitte der 70er im Sound kennen lernt. Stella war damals 12. 1995, schwer gezeichnet von langjährigem Drogenkonsum, spricht sie traurig und zerlebt über ihren unmöglichen Wunsch, ein Leben anders zu leben. 2006 erwähnt Sandra Maischberger in einem Interview mit Christiane, dass diese die einzige Überlebende sei. Detlef, Frank, Kessi und Stella kommen nicht mehr vor. Jener Detlef, der vor ein paar Tagen seinen 61. Geburtstag feierte, wie er in einem Kommentar unter der Spiegel-Doku selbst schrieb.
Für uns blieb seinerzeit die Musik von David Bowie, von Christiane verehrt, die Neugierde auf bestimmte Drogen, der Mythos Berlin und der Horror vor Heroin. Im Sound des Jahrs 1981 war nicht mehr viel zu spüren von der Magie, die Christiane seinerzeit verspürte – bis auf den Schwarzlichtstempel. Später schlichen wir verstohlen um den Bahnhof Zoo. Beobachteten die Menschen, die Kinder dort. Waren sie Junkies? Stricher? Abends in der Jugendherberge hatten wir wieder unseren harmlosen Spaß, der Bahnhof Zoo war nun wieder ebenso nah wie fern. Aber wir hatten eine Ahnung davon, dass wir in unserer eigenen Enge, mit unseren Wünschen nach Ausbruch, mit der Auflehnung gegen die Erwachsenen, die uns alles verbieten wollten und unsere Bedürfnisse nie wirklich ernst nahmen, nicht alleine waren. Das Buch endete seinerzeit mit dem Leben Christianes in der norddeutschen Provinz, sie schaffte einen Hauptschulabschluss und schien in eine bessere Welt zu gleiten. Es ließ uns in dem Glauben, dass alles gut sei. Dass die Geschichte der Christiane F. einen versöhnlichen Ausgang nahm. Doch das Leben ging weiter.
Anders als die neuen Leiden des jungen W. oder der Fänger im Roggen war die Welt der Kinder vom Bahnhof Zoo nicht ausgedacht. Das Sound, in dem wir uns so verrucht vorkamen, David Bowie, den Bahnhof Zoo, all dies gab es wirklich. Christiane, Detlef, Babsi, Stella, Frank, Kessi waren lebende bzw. teils verstorbene Menschen aus Fleisch und Blut. Deren Realität gleichermaßen faszinierend wie abstoßend. Die Eltern, beschäftigt mit dem eigenen Leben, die Autorität etlicher Hausmeister oder Lehrer, der Platzwarte – all dies kannten wir. Unsere tobenden Hirne, die gärenden Träume prallten auf die Anforderungen der Wirklichkeit, das gefühlte Unverstandensein von der Welt, die Einsamkeit und Unvermittelbarkeit unserer unausgegorenen wie wahrhaften Gedanken, all dies war nicht fremd. Die Suche nach Räumen, nach Ausbrüchen aus dem verpickeltem Ich – auch unsere Lebenswirklichkeit wurde gestreift. Unsere Gropiusstadt war der Starkenburgring in Dietzenbach, in dem ich zwar nicht lebte, aber Freunde von mir. Vielleicht hatten wir Glück, dass wir von Wald umgeben waren und nicht von einer Mauer und vielleicht hatte ich Glück, dass es meinen Fußballverein gab, die SG Dietzenbach in dem ich mich seit meinem 10. Lebensjahr aufgehoben fühlte – mit unserem liebenswerten Trainer, Jürgen Porthe, mit seinem alten NSU Prinz. Zweimal die Woche Training, einmal am Wochenende ein Spiel. Zumindest in dieser Hinsicht war das Leben nicht perspektivlos. Ohne es zu wissen, gab mir der Fußball im Verein Halt. Und dann gab es noch den Bolzplatz in der Wiesenstraße. Wenn ich nicht wusste, wohin, ging es dorthin.
Von daher war die Welt der Christiane F. eine völlig andere, eine Welt, in die ich mich manchmal verklärend sehnte, wenn wieder einmal alles zu viel wurde und vor der ich letztlich doch zuviel Angst hatte. Wir streiften diese Welt in Momenten, rauchten, tranken, kifften und standen wohl immer wieder kurz auf den Gleisen nach Nirgendwo, doch die Weichen waren anders gestellt – ohne dass wir es wussten.
Diese Erwachsenenwelt mit ihren Ansprüchen ans Leben, ist mir bis heute fremd geblieben. Die Angepasstheit ob des eigenen Vorteils Willen, die Insignien des vermeintlichen „Geschaffthabens“, der ewige Kampf um ein Fünkchen Glück, eingepackt in einen Rahmen, der nicht verlassen werden darf, weil sonst alles in Trümmer fällt. Wenn man genauer hinschaut, sie kommen ja auch nicht wirklich klar mit den Dingen. Sie wehren sich gegen die Welt mit Alkohol, Depressionen, Krankheiten, Tyrannei, Drogen, Süchten, Therapien, Einkäufen, Kunst. Und doch wird diese Welt täglich erneuert. Die Fassade scheint stabil, doch wehe sie fällt. Wer Glück hat, wird geliebt. Oder liebt. Im besten Fall fällt beides zusammen.
Und doch ist es ein immerwährender Kampf, nicht den Kopf und nicht die Nerven zu verlieren. Und den Anstand. Die Würde. Es ist ein Kampf um das Leben und irgendwann gegen den Tod. Stella, die als Kind aus dem Tod ins Leben zurückgeholt wurde, beklagt sich in der Doku, dass sie nicht gefragt wurde, ob sie dies auch wolle. Sitzt da, trinkt, raucht und ihr Gesicht spricht Bände, ihre Augen sind traurig. Vor ein paar Jahren scheint sie gestorben zu sein. Endgültig.
Christiane wurde 2013 Subjekt eines weiteren Buches: „Mein zweites Leben“. Anschließend hat sie sich aus der Öffentlichkeit zurück gezogen, es scheint ihr gesundheitlich nicht gut zu gehen. In einer Gesprächsrunde der Welt stand sie damals neben Sonja Vukovic, die das Buch schrieb und dem damaligen Leiter der Drogenberatungs- und Anlaufstelle „Birkenstube“ in Berlin, Christian Hennis. Moderiert vom unsäglichen Claus Strunz. Es ist eine furchtbares Interview, was nicht an den drei Gästen liegt. Es zeigt aufs Elendigste eine Arroganz und Selbstverliebtheit, das Benutzen der Befindlichkeiten anderer zum Zwecke der eigenen Profilierung ohne jegliches Interesse am Gegenüber. Und ohne die Konsequenzen zu tragen. Verantwortungsloser Springerjournalismus at its best.
Demnächst wird die Geschichte der Kinder vom Bahnhof Zoo in einer Neuverfilmung bei Amazon laufen. Wahrscheinlich ebenso ein Fressen für etliche Medien mit geheucheltem Interesse. Leben als Material. Das gibt was her. Damals hat die Geschichte der Christiane F. dafür gesorgt, dass ein Thema in die Öffentlichkeit kam. Verstärkte Sozialarbeit, Druckräume, Methadonprogramme, all dies hätte es womöglich ohne die Kinder vom Bahnhof Zoo nicht oder nicht zu diesem Zeitpunkt gegeben. Heute wird deren Geschichte wohl kurz durchs Netz gehechelt, ehe ein neuer Aufreger sie ablösen wird.
Ich danke Christiane Felscherinow ebenso wie Detlef, Frank, Stella, Kessi, Babsi und den anderen, dass euer Leben meines womöglich davor bewahrt hat, vor der Zeit kaputt zu gehen. So ihr noch lebt, wünsche ich euch alles Gute.