Fußball. Seit ich denken kann, war Fußball wichtig. Zum einen, weil ich von meinem neunten Lebensjahr bis in die Zwanziger selbst gekickt habe, zum anderen gab es ja schon immer die Frankfurter Eintracht. Der Verein, von dem ich Fan wurde, als Grabi und Holz 1974 den WM-Titel geholt haben. In den vergangen 20 Jahren habe ich in den unterschiedlichsten Positionen für den Club gearbeitet. Wobei: Club? Nein, die Eintracht ist mein Verein. Der Club spielt in Nürnberg.
Was ist in den letzten Jahrzehnten nicht alles weggebrochen. Menschen, Dinge, Institutionen, Gebäude. Das Rundschauhaus zum Beispiel. Und letztlich auch die Frankfurter Rundschau. Sicher, man kann sie noch kaufen. Aber sie ist keine Frankfurter Institution mehr. Die Abendpost/Nachtausgabe ist schon ewig Geschichte, das Stammblatt meines Großvaters. Das Sudfass gibt es auch nicht mehr. Nicht, dass ich es privat besucht hätte, das nicht – aber wie oft habe ich beim Thai für die Huren Essen geholt und mit dem Taxi dort abgeliefert. Die Damen holten es sich in Arbeitskleidung bei mir ab. Der Goetheturm, den ich schon als Kind mit meinen lange verstorbenen Großeltern erklommen hatte, wurde abgefackelt, der Monte Scherbelino darf seit Jahrzehnten nicht mehr betreten werden. Meine depressiven Nachunijahre verbrachte ich im Eckstein an der Staufenmauer. Trank einen Schuss im Paulaner im Nordend. Aß in Bockenheim im Pielok regelmäßig zu Mittag – zwischen revolutionären Studenten und Lateinprofessoren. Sogar die Mauer ist weg. Wobei, in zynischen Momenten denke ich, die größten Katastrophen des letzten Jahrhunderts waren der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie der Mauerfall.
Die Eintracht aber hatte immer Bestand, im stetigen Wandel begriffen, aber sie war da. Und sie ist auch heute noch da. Über 90.000 Mitglieder zählt der Verein im April 2020, ein Teil davon wird derzeit von der Fanabteilung mit Lebensmitteln versorgt. Und sie wird auch die Krise überstehen, da bin ich sicher.
Der Fußball im Allgemeinen aber, diese vermeintlich schönste Nebensache der Welt, scheint am Ende der Fahnenstange angekommen zu sein. Sicher, die Kritik an der Art und Weise wie sich der Fußball in den vergangenen 20 Jahren entwickelt hat ist nicht neu. Die Hinwendung zum ganz großen Geld, die Eigenmächtigkeit der großen Verbände, die Etablierung von Clubs wie Hoffenheim oder Leipzig unter Aushebelung an sich schon fragwürdiger Regularien. Die WM 2006 war ein mächtiger Sargnagel. Schon im Vorfeld wurden Fans als Spielball genutzt, um Handlungsspielräume von Staat und Polizei zu erproben. Die letztlich von korrupten, sich heute in Stillschweigen hüllenden, Funktionären gekaufte WM, die dem Patriotismus Vorschub leistete, der sich heute in Form offen rassistischer Individuen und Parteien etabliert hat. Zwischendrin die Ultras, sozial engagiert, Widerstand leistend und gegnerische Fans verprügelnd. Die Ultras entstanden, als der moderne Fußball ins Rollen kam. Ihrem Wesen nach untrennbar mit dem Jetzt verbunden. Manchmal wundere ich mich, weshalb junge Menschen ihre Subkultur in einer der größten und zynischsten Industrien etablierten. Wenn du jung und wild bist, dann suchst dur dir Nischen, entwickelst Neues. Wie in der Musik. Schon immer hat die Jugend die alten Zöpfe abgeschnitten, sich abgegrenzt, ihre eigene Identität gesucht. Rock’n’Roll, die Hippies, Punk, Gothic, Indie, Techno, HipHop, Rap – es wurden eigene Welten kreiert, die zunächst auf die Verbürgerlichten verstörend wirkten – bis sich die jeweilige Subkultur angepasst hat oder angepasst wurde. Später stellten die meisten dann fest, dass auch die jeweils Altvorderen brauchbares hervor gebracht hatten. So funktioniert Musik nicht nur als Teil der eigenen, sich entwickelten, Identität, sondern gleichermaßen als über allem Stehenden – im besten Falle unabhängig von Zeit und Raum.
Aber niemand unter 20 kommt, sagen wir mal im April 2020 auf die Idee, die Stones zu entdecken, ihre Konzerte abzufeiern und dennoch in schönster Regelmäßigkeit alles daran zu setzen, dass die Stones wieder so werden, wie Ende der 60er, als sie noch etwas zu sagen hatten. Beim Fußball aber funktioniert das. Und genau dies ist ein Baustein, der den modernen Fußball am Leben hält. Ein nie zu lösender Widerspruch. Und dennoch sind die Attacken auf den modernen Fußballs immens wichtig, enthalten sie doch einen Kern von Utopie, den Wunsch nach einer besseren (Fußball)Welt. Einen Wunsch, den sich die meisten Protagonisten längst abgeschminkt haben, weil sie sich in der absurden Gegenwart bräsig einrichteten und auf die Konsequenzen scheißen. Was sollen sie auch die Korruption, die Lüge geißeln, wenn es Pyrotechnik gibt.
Derweil scheren sich die Verbände und Institutionen einen Dreck um Forderungen nach einer besseren Fußballwelt. Sie schieben das große Geld hin und her, hofiert von einer immer größer werdenden Anzahl abhängiger und willfähriger Kommentatoren und „Journalisten“, deren Existenz untrennbar mit dem Fußball verbunden ist. Es waren die Fans und vielfach die Ultras, die sich massiv mit der Historie der Vereine während der NS-Zeit auseinander gesetzt haben. Die Herren in Amt und Würden taten jahrelang so, als hätte es dies alles nicht gegeben, die Ausgrenzung und Ermordung jüdischer Mitglieder. Und sie schraubten im Laufe der Jahre an Wettbewerben, deren einziger Zweck die Monetarisierung des Spiels war. Ob Europacup oder Championsleague, ob Weltmeisterschaften oder neue Wettbewerbe für Nationalmannschaften, der sportliche Nährwert hinkte stets den fließenden Talern hinterher. Mit der Konsequenz, dass die korrupte Blase nach leichten Aufschreien Stück für Stück unehrenhaft aus den Ämtern entfernt und durch eine noch korruptere, noch verdorbenere Blase ersetzt wurde. Nahezu jeder, der in den vergangenen 20 Jahren in führender Position war, egal ob nationale Verbände, UEFA oder FIFA ist heute Persona non grata, einstige Lichtgestalten verwesen im Schatten. Und neue Lichtgestalten schütteln Diktatoren die Hände.
Jetzt hat Corona den Fußball im Griff. Und statt in sich zu gehen, werden Strategien ausgetüffelt, wie man die große Maschine am Leben erhalten kann. Während die Fans in ihren Wohnungen sitzen, glücklich, wer einen Balkon hat, während Menschen offensichtlich völlig zu Recht nur alleine oder zu zweit nach draußen dürfen, haben die ersten Vereine den Trainingsbetrieb wieder aufgenommen. Niemand weiß, wie sich die gesellschaftliche Situation verändert. Aber die oberste Fußballprämisse lautet: Der Rubel muss rollen. Spieler bekommen Woche für Woche Millionengehälter überwiesen – die Mitarbeiter aber müssen kurzrarbeiten für kleines Geld, welches sich ein Club wie Liverpool unter Ausreizung aller Möglichkeiten sogar vom Staat bezahlen lässt. Dafür kaufen wir dann gerne Trikots für 100 Pfund. In Katar wird weiter gebaut, als wäre nichts gewesen. Und im ZDF überbieten sich sogenannte Journalisten an unkritischer Unterwürfigkeit an die Mächtigen des Fußballs, lassen sich von Milliardären Bären auf die Nase binden, in der Hoffnung auf einen nächsten Job in deren Welt. Sendezeit für die scheinheilige und selbstverliebte Propaganda eines Dietmar Hopp, finanziert von der Gebühren der Bürger.
Machen wir uns nichts vor, ein paar Vereine werden vor die Hunde gehen – und sollte die Krise überstanden sein, werden einige Krokodilstränen vergossen, wird weiterhin am Rad gedreht, als gäbe es kein Gestern. Statt Gehälter für Fußballer zu deckeln, Beraterhonorare einzufrieren, den ganzen Zinnober wenigstens halbwegs mit der Lebensrealität der meisten Fans zu verzahnen – und finanziell anzugleichen, wird es so weitergehen wie bisher. Goldummantelte Steaks und einfliegende Friseure inbegriffen. Stand jetzt!