Es ist kurz vor Mitternacht, als ich durch die feuchtkalte Nacht vom Berger Kino nach Hause laufe, niemand ist auf den Straßen unterwegs. Lange war ich nicht mehr im Kino gewesen, schon gar nicht alleine. Ein Plakat hatte mich mittags auf den Film aufmerksam gemacht: Shadow von Zhang Yimou, dessen Werke Hero und House of Flying Daggers mich vor Jahren begeisterten.
Als Kind oder Jugendlicher war ich sehr selten im Kino, manchmal sind wir nachts zum Autokino in Gravenbruch gefahren, um über die Hecken einen Blick auf irgendeinen Softporno zu erwischen, in Offenbach sah ich, keine 15 Jahre alt mit meinem nunmehr auch schon verstorbenen etwas älteren Nachbarn Axel mit Begeisterung „Apocalypse Now“ oder „Conan der Barbar“. Mit 18 fuhr unsere Clique dann regelmäßig nach Darmstadt oder Langen, dort liefen die Doppelnächte, meist Blues Brothers, Das Leben des Brian, Ritter der Kokosnuss, Heavy Metal oder Kentucky Fried Movie. Blues Brothers konnten wir alle mitsprechen. Unter der Woche lief im Dietzenbacher Rathaus im Kino D jeweils ein Klassiker, Rocky Horror Picture Show, Das Omen oder The Fog – Nebel des Grauens. Eine Passion aber wurde Kino für mich erst Mitte der Achtziger, als ich wieder nach Frankfurt zog und mich für Germanistik einschrieb. Ein einschneidendes Erlebnis war die Nacht, als ich in meiner kleinen Bude in Bockenheim abends eine Vorschau von Blue Velvet von David Lynch im TV sah. Ein Blick in das „Strandgut“, eine kostenlose Frankfurter Zeitung mit vielen Filmkritiken und dem aktuellen Kinoprogramm, zeigte mir, dass Blue Velvet in einer knappen halben Stunde in der Harmonie gezeigt wird. Ich warf mich in meinen roten Fiat 126 und sauste nach Sachsenhausen, kam rechtzeitig an, erwarb eine Karte – und meine Welt wurde eine andere. Die Reise durch das abgeschnittene Ohr, die Widersprüchlichkeit der bizarr heilen Welt des Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan ), der in der surreal bösen Welt des Frank Booth (Dennis Hopper ) landet, die Kontrapunktion von Laura Dern und Isabella Rosselini hatte mich im Innersten gepackt. Zuvor schon hatte ich Eraserhead gesehen, den verstörenden Erstling von Lynch, ein Film wie ein Song von Cure gemischt mit den Einstürzenden Neubauten, doch Blue Velvet in seiner komplexen Verstörtheit traf mich wie ein Keulenschlag. Bis heute antworte ich auf die Frage nach meinem Lieblingsfilm mit „Blue Velvet“ und mein Lieblingsfilmsong ist wohl „In Dreams“ von Roy Orbison, dieses wunderschöne Lied, der Candy Colored Clown called Sandman, gepaart mit den brutalen Bildern des Films, auf die es gelegt wurde. Ich begriff, dass Schönheit und Zerstörung zusammen gehören, die Dämonen in meinem Kopf wurden visualisiert. Hatte ich zuvor nur auf die Leinwand geschaut, so war ich nun ihr drin, wie sie in mir war.
Fortan ging ich regelmäßig ins Kino, zu meinen Lieblingsregisseuren entwickelten sich neben Lynch Jim Jarmusch oder Ari Kaurismäki, ich entdeckte Peter Greenaway wie den Film Noir. Da meine damalige Freundin, eine Schauspielerin, gleichfalls Kinoaffin war, zog es uns in die alten Polanskifilme, ebenso zu Chabrol oder Bunuel. Regelmäßig waren wir im Berger Kino, im Mal Sehen, in der Harmonie oder im Orfeo. Auf einmal wurde mir Truffaut ein Begriff, konnte ich mit den Gefährlichen Liebschaften etwas anfangen, liebte die Leichtigkeit des Eric Romer und den Horror von Brian de Palma. Anfang der 90er lernte ich im Turmpalast selbst Filmvorführer, sah zigmal Bram Stokers Dracula aber auch leider Bodygard oder Body of Evidence. Eines der größten Erlebnisse jener Zeit war der Besuch vom Exorzisten III, ein passabler Film, durchaus. Wir gingen an einem kalten, trockenen Wintertag ins Kino – als wir es verließen aber lag der Schnee 20 Zentimeter hoch, wir sind durch das Kino in eine andere Welt marschiert.
Etwas später lernte ich Andi und seine Kumpels kennen, wir gingen ins Kommunale Kino, sahen alte Kubricks, Lost Highway, Mullholland Drive, Scorsese, Fincher, die üblichen Verdächtigen, LA Confidential. Zeitweilig arbeiteten wir bei belanglosen Werbefilmproduktionen, Andi wollte Regisseur werden, Michi Autor, Holger Fotograf, meist waren wir im Kulissenbau tätig, schraubten Wände zusammen oder malten sie an. Ein Freund von Andi hatte bei einem Dreh für einen Fall für Zwei den Job, eine Straße abzusperren, in der gedreht wurde. Er sollte niemanden durchlassen – und nahm seinen Job sehr ernst. Sogar als die Feuerwehr kam, ließ er sie nicht durch. Und dennoch waren es erhabene Momente am Set, der strenge Ablauf der Tätigkeiten, die Ernsthaftigkeit der Beteiligten, die Stille beim Dreh, als wir aufpassen mussten, dass ein verrutschtes Element im nächsten Take wieder dort steht, wo es zuvor stand. Ende der 90er planten wir selbst einen Film zu drehen. Während ich an eine lustige Videoproduktion dachte, wie ich sie mit Björn Jahre zuvor einmal verwirklicht – und die uns mit geliehener Kamera vielleicht 50 Mark gekostet hatte (den Ton besorgten wir uns über knisternde Schallplattenaufnahmen), waren die Jungs ambitionierter. Wir schrieben nach zähem ringen ein Drehbuch, veranlagten ein paar hundert Mark als Budget und begannen. Irgendwann schien uns alles über den Kopf zu wachsen. Wir bauten im Exzess Kulissen, besorgten uns bei MBF Equipment, hatten vom Kameramann bis zur Continuity und Ausstattung zig Leute am Start – und waren nach wochenlanger Arbeit bis über beide Ohren verschuldet, hatten unfertiges 16mm Material und fragten uns, was wir da eigentlich machen. Aber wir steckten mit beiden Beinen im Projekt, organisierten etliche Monate später einen Nachdreh, diskutierten bis zur Weißglut, lernten digitales schneiden, besorgten uns mit Jochen Schoberth einen Musiker der mit Goethes Erben und Artwork einige Szenehits hatte, und uns wohlgesonnen war. Er erlaubte uns nicht nur, einen Song zu nutzen, sondern entwarf sogar einen Klangteppich für uns. Tatsächlich, wir stellten den Film fertig, feierten Premiere und wurden sogar zu einem Filmfestival nach Bayreuth eingeladen, wo wir in einem vornehmen Hotel wohnten. Goethes Erben zeigten den Film bei einigen Auftritten. Als wir nach Wien wollten, um einem Konzert beizuwohnen, verabschiedete sich mein Opel Corsa bei Linz und wir fuhren mit der Bahn wieder heim. Auf den Schultern schleppte ich eine der beiden riesigen Boxen, der Wagen aber blieb in Österreich. Schlappe 20.000 Mark hatten wir für 10 Minuten Film investiert – und einen Corsa. Der Film heißt: Der Tag – und wurde nie wieder öffenrlich gezeigt.
Michi schrieb sich an der Filmhochschule in Ludwigsburg für Drehbuch ein, ist heute hoch dekoriert und verantwortlich für einige der besten deutschen Filme, wie der Tatort „Im Schmerz geboren“, Holger wurde Fotograf, Andi sattelte um auf Szenenbild. 2005 arbeiteten wir fast alle wieder an einem Filmprojekt, diesmal ein echter Spielfilm, Michi schrieb das Drehbuch, Andi machte das Szenenbild und ich arbeitete für die Baubühne. Kahlschlag, mit Charly Hübner, Nadeshda Brennicke oder Lisa Maria Potthoff. War eine tolle Zeit, gedreht wurde in Stuttgart, durchgedreht auch.
Anschließend nahm mich der Fußball immer mehr in Beschlag, ins Kino ging ich nur noch selten, meine Filme bestanden aus wöchentlichen Auswärtsfahrten, peinlichen Klatschen und grandiosen Siegen der Eintracht. Immer intensiver wurde meine Tätigkeit für den Club, der mich seit Kindheitstagen begleitet. Und auch dies hängt mit dem Kino zusammen. Im Sommer 2002 arbeitete ich wieder einmal für das Open Air Kino im Brentanobad. Nachdem Andi zuvor verantwortlich war, übernahm in diesem Sommer Holger die Leitung. Begleitet wurde das Ganze durch reges Interesse der örtlichen Gang, die sich durch nahezu mafiöse Methoden freien Eintritt erschlichen hatte. Eine zerschnittene Leinwand hatte uns überzeugt, mit ihnen zusammen zu arbeiten. Am ersten Filmabend fiel mir auf, dass es keine Lautsprecherdurchsagen gab. Keine Begrüßung der Gäste, keine Aufforderung an die Besucher, ihren Müll mit zu nehmen, ein Job, der an uns hängen blieb. So fragte ich Holger nach dem Grund – allein, er wollte nicht und fragte mich, ob ich es machen würde? Ich zuckte. Zwar schrieb ich schon lange, öffentlich zu sprechen aber traute ich mich nicht. Ein Text von mir hatte sogar einmal einen Poetry Slam gewonnen – gesprochen aber wurde er von einem Schauspieler der Dramatischen Bühne, mit er ich damals verwoben war. Der Vorteil im Open Air Kino war eindeutig, dass mich niemand sehen konnte, das Mikro befand sich im Vorführungscontainer. Also schlich ich am zweiten Abend die Treppen hoch und nahm mein Herz wie das Mikro in die Hand – und siehe da: Es klappte. Zwar war ich verwirrt, da meinen Stimme erst mit einiger Verzögerung den Lautsprecher an der Leinwand erreichte und ich mich quasi zeitverzögert selbst hörte, während ich sprach. Aber die Leute klatschten brav – und sammelten noch bräver am Ende der Vorstellung ihre Reste auf. Mit einem Schlag hatte ich meine Angst verloren, begrüßte nun jeden Abend die Gäste und hatte einen tollen Sommer mit Amelie und dem Herrn der Ringe.
Ein paar Wochen später suchte die Eintracht einen Stadionsprecher für die Amateure – dies erfuhr ich wiederum über Andi. Und da ich als glühender Anhänger der Eintracht ja nun auch mit dem Mikro ein alter Hase war, sprach ich vor – und wurde prompt genommen. Während ich dachte, jetzt muss ich wer weiß was abliefern, wollte nie jemand von mir eine Sprechprobe oder ähnliches hören. Die waren froh, dass es jemand machte. Im Jahr des Lizenzentzuges tickten die Uhren noch anders. Und dann stand ich auf einmal mit dem Mikro in der Hand auf einer Tribüne und hörte zu meiner Verwunderung meine Stimme: „Und hier ist sie, die Aufstellung unserer Eintracht …“. Später sollte ich eine TV-Sendung moderieren, jetzt stehe ich bei jedem Heimspiel auf der Waldtribüne in der Arena und habe bei hunderten Veranstaltungen mit nahezu jedem, der für die Eintracht in den vergangenen Jahrzehnten relevant war, öffentliche Interviews oder intensive Gespräche geführt. Alles nur, weil Holger sich im Sommer 2002 nicht traute, im Kino durchs Mikro zu reden.
Es ist kurz vor Mitternacht, als ich durch die feuchtkalte Nacht vom Berger Kino nach Hause laufe, niemand ist auf den Straßen unterwegs. Lange war ich nicht mehr im Kino gewesen, schon gar nicht alleine. Ein Plakat hatte mich mittags auf den Film aufmerksam gemacht: Shadow von Zhang Yimou, dessen Werke Hero und House of Flying Daggers mich vor Jahren begeisterten. Und ich sollte nicht enttäuscht werden, ein bildgewaltiges Epos entfaltete sich vor einer Handvoll Zuschauer, gesprochen in chinesisch mit deutschen Untertiteln, ein Werk mit Shakespearscher Verstrickung, Bambuswäldern, Zeitlupenwassertropfen, eine Geschichte des Verrats und der Dualität, komplex wie klar. Wenig Kämpfe – und wenn dann richtig, die sich um sich selbst drehenden schwarz- und langhaarige KämpferInnen mit eisernen Regenschirmen als Schwert, die Szenenbilder die Gemälde sein könnten, ein Film, der Schwarz-Weiß anmutet und dennoch farbig ist. Beeindruckt gehe ich nach Hause. Ja Kino. Toll.