Eigentlich wollte ich ja nicht mehr nach Mainz fahren. Und eigentlich hätte ich mich auch daran halten sollen. Aber ich war nach Jahren mal wieder dort. Und das kam so:
Es ist schon gut zwei Wochen her, als Christian mich fragte, ob ich mit nach Mainz kommen möchte, er hätte zwei Karten. Und da ich schon länger nicht mehr mit ihm auswärts gefahren bin und die Touren in der Vergangenheit immer sehr relaxt und cool waren, dachte ich: Eijo, warum eigentlich nicht? Gut, Gründe gäbe es eine Menge, nicht mehr nach Mainz zu fahren – aber wer weiß, vielleicht erlebe ich ja nach London einen weiteren historischen Abend, einen Auswärtssieg der Eintracht gab es hier zuletzt vor über 30 Jahren. Das ist lange. Viel zu lange.
Und so warte ich wieder einmal auf die Straßenbahn, die mit ein paar Minuten Verspätung an diesem Montagabend an der Rohrbachstraße hält. Die Zeit zum Umsteigen in der S-Bahn wird knapp, ich erinnere mich noch allzu gut an die Momente in London, als ich im Bus zum Airport auf glühenden Kohlen saß, aber London ist nicht Frankfurt, ich erwische die S-Bahn, die gleichfalls ein paar Minuten zu spät einrollt und setze mich in den ersten Wagen. Fahrradfahrer sind beschäftigt, ihre Räder zu verstauen und blockieren den ein oder anderen Sitz. Ich meine, ich habe nichts gegen Fahrradfahrer, einige meiner besten Freunde sind welche, aber …
Christian steigt in Niederrad zu, die Tickets für die Bahn sind im Eintrittsticket für’s Spiel enthalten, das ist praktisch. Und so rollen wir vorbei am Stadion, vorbei am Fernbahnhof Richtung Mainz Hauptbahnhof, zwischendrin rangieren die Radfahrer ihre Drahtesel umher, Tschuldigung hier, Tschuldigung da, wir aber verlassen die Bahn am Mainzer Hauptbahnhof und suchen in der Dunkelheit noch einen kleinen Imbiss. Ein paar Schritte weiter Richtung Altstadt wartet ein kleiner Weihnachtsmarkt auf Kundschaft, es gibt Glühwein und Bratwurst. Am Wurststand ordern wir zwei Würste und zwei ältere Herren machen sich an die Arbeit, eine gefühlte Viertelstunde später halten wir sie endlich in den Händen. Die Würste. Wir befinden uns im Jahr eins vor der Erfindung der Geschwindigkeit. Ähnlich nebenan am Weinstand, ein Dame hebt knapp 20 Flaschen Wein aus dem Kühlfach in die Höhe, ehe sie den Weißen Burgunder gefunden hat, wir nehmen’s sportlich, trinken ein Weinchen, holen noch ein Roadbier und setzen uns dann in einen der gut gefüllten Shuttlebusse Richtung Stadion, im Wagen sind nur Frankfurter. Die Fahrt zieht sich, die ersten werden nervös, öffnen später dann selbstständig die Türen und wir ergießen uns ins Freie, das Stadion leuchtet in naher Ferne. Mittlerweile wohnen hier sogar Menschen, ein paar Blocks wurden auf die Wiese gebaut, der Charme gleicht einem der erbärmlichsten Flecken Frankfurts, dem sogenannten „Europaviertel“, einem Ghetto für Besserverdiener.
Keine viertel Stunde später sind wir im Block J der rot beleuchteten Opel-Arena, wandern schnurstracks nach oben, natürlich ein Gude hie, ein Gude da. Derweil gibt der Stadionsprecher alles, flitzt über den Platz, begrüßt die Heimränge wie ein Boxansager, moduliert die Stimme, ein fürchterliches Gekasper, welches in Mainz eine lange Tradition hat. Es ist würdelos. Ein paar Fahnenträger marschieren ein – und zu allem Überfluss läuft wie immer „You never walk alone“, ein Diebstahl der übelsten Sorte. Dazu zieht ein debiler Werbezeppelin seine Kreise. Das Stadion selbst aber ist völlig okay, kompakt mit guter Sicht und kurzer Distanz von den Rängen zum Spielfeld. Kaum laufen die Mannschaften ein, illuminiert eine Fackel das weite Rund. Weitere werden entzündet – und nach einem Böllerschlag gepflegt auf das Spielfeld geworfen, dabei wird ordnungsgemäß das Fangnetz beiseite gezogen, auf dass kein Unglück passiert. Wäre es beim Gefackel geblieben, ich hätte geschwiegen, so aber verziehen sich die Teams wieder in die Kabine. Kurz darauf marschieren Kostic und Rode, der heute Mannschaftskapitän ist, in die Kurve, beschwichtigen die inhaltlich so vorzüglich Argumentierenden und marschieren wieder von dannen. Später hieß es, es hätte geheißen: Verpisst euch. Wenn dem so ist, dann herzlichen Glückwunsch. Wer lässt sich schon gerne vom stets alles gebenden Rode sagen, er möge Dinge unterlassen, die der Eintracht schaden. Gut, im End ist nichts wirklich passiert, ein bisschen Rasen ist verbrannt – aber nicht nur die Außenwirkung ist fatal. Viele von uns waren nicht in Lüttich, viele von uns waren nicht in Arsenal, eine Folge absurder Kollektivstrafen, aber auch eine Folge selbstherrlichen Verhaltens einiger weniger, deren Lippen zwar flüstern „Wir sind alle Eintracht“, deren Taten aber letztlich nur eines sichtbar werden lassen: Eine Hybris, die sich um nichts schert, als um die eigene Selbstdarstellung, die alle anderen in Sippenhaft nimmt, gleichermaßen egozentrisch wie humorlos den Focus auf sich zieht, derweil ausgehängte Pamphlete vermeintlichen Erfolgsfans just diese Selbstdarstellung vorwerfen. Die Sache ist klar, nichts verlässt die Hand und wenn dem nicht so ist, dann hat die Kurve und deren Herren eklatant versagt. Punkt.
Der Rauch verzieht sich, die Mannschaften laufen ein, das Spiel beginnt. Da es Montagabend ist, schweigen die Kurven, bei den Mainzern hängen ein paar Protestbanner gegen die Montagsspiele, die alsbald der Geschichte angehören werden. Ob ein Auswärtsspiel Sonntagabend um acht die bessere Variante ist, darf bezweifelt werden. Auswärtsfans kommen dann ebenso wenig zu vernünftigen Zeiten nach Hause, wie Montags – wenn man nicht gerade im 30 Km entfernten Mainz kickt. Nach 15:30 Minuten setzt ein zaghafter Mainzer Support ein, die Eintrachtler schweigen eisern. Da auch keine Fahnen wehen, können wir das Spiel gucken, wir stehen ganz oben.
Mainz kommt besser ins Spiel, die Eintracht braucht ein Weilchen, um dagegen zu halten- und dann ist es Hinteregger, der zum 1:0 für die Eintracht trifft, der Jubel ist groß, ich aber erinnere mich an viele Führungen hier und ebenso viele vergeigte Spiele. Rönnow hat wieder einmal einen guten Tag. Die Zeit marschiert unaufhaltsam Richtung Pausenpfiff, die Eintracht führt eine Ecke aus, in deren Folge binnen Sekunden die Mainzer einen Konter starten, den Kohr rotsehenden Auges stoppt. Er erhält seine Rote Karte, wandert kommentarlos in die Kabine, Halbzeit. Ärgern.
Mit Beginn der zweiten Hälfte kommt Torro für Paciencia auf den Platz, das freut mich sehr für den sympathischen Kerl, der auch im Verlaufe des Spiels einige fußballerische Akzente setzen kann. Eingesetzt hat nunmehr auch der Frankfurter Support. Das schert die Mainzer wenig, sie haben sich etwas vorgenommen, nämlich das Spiel zu drehen, und ehe die Eintracht sich sortiert hat, steht es 1:1. Unmittelbar darauf sogar 2:1, die Anzeigetafel verkündet es, der Stadionsprecher plärrt es hinaus in die Welt – der Videoassistent erkennt völlig zu Recht, dass der Ball zuvor im Aus war und annulliert den Treffer. Aufatmen. Nun wogt es hin und her – mit dem besseren Abschluss für Mainz, nach gut 70 Minuten die zählende Führung durch den eingewechselten Szalai. Die Eintracht bemüht sich, setzt kurz vor Schluss noch einen schönen Überzahlkonter, der im Nirgendwo verläuft. Nach vier Minuten Nachspielzeit pfeift Manuel Gräfe ab, die Eintracht hat wieder einmal in Mainz verloren. Ich hätte es wissen müssen.
Wir verlassen fluchend das Stadion, setzen uns in einen der Shuttlebusse, werden am Bahnhof ausgespuckt und hocken uns in eine der beiden wartenden Bahnen. Während die eine sich irgendwann in Bewegung setzt, verkündet unser Fahrer, dass unsere Bahn noch keinen Abfahrtszeitpunkt kennt und die nächste Ankommende eher abfährt. Also rennen alle bei Ankunft in diese Bahn, um wenig später wieder zurück zu flitzen. Tatsächlich, die so eben angekommene Bahn fährt ab, wir sitzen drin, die anderen gucken blöd, aber das war ja schon den ganzen Abend so. Über Rüssels- und Raunheim, über Fernbahnhof und Stadion rollen wir zur Konsti. Nina ist auch in der Bahn, wir verabschieden uns von Christian, wandern hoch zur Sraßenbahnlinie Nummer 12, die auch sogleich einrollt und fahren hoch. Als ich am Güntherburgspark aussteige, meint ein Mitreisender zu mir: Hey, ich habe gerade deinen Bericht aus London gelesen, hat mit das Kackspiel eben ein bisschen gerettet. Das ist doch prima, ich grüße dich und bin Punkt 1:00 Uhr zuhause. Pia ist noch wach, hat das Spiel bei Freunden geguckt. Auch keine schlechte Idee.