Gott, was war ich froh, gestern Abend im Bett zu liegen, noch die erste halbe Stunde unter der Decke war ich leicht fröstelig. Aber als ich aufwachte, war ich stabil und vor allem rechtzeitig wach. Eine eine heiße Dusche weckte die Lebensgeister vollends, kurz darauf kam das Frühstück, den Apfel und den Joghurt konnte ich gebrauchen, die Würstchen und den Toast eher nicht. Aber was soll’s, Unterlagen gecheckt, Rucksack gepackt und ein letzter Weg über die vielen Stufen und Türen zur vermeintlichen Rezeption genommen – die natürlich verschlossen war.
Also laufe ich wieder nach oben, deponiere den Zimmerschlüssel auf dem Tisch und marschiere erneut nach unten. Zuvor hatte ich versucht, mir ein Uber Taxi über die App vorzubestellen – das hat jedoch nicht funktioniert. Drei Mal drückte ich auf bestätigen, drei Mal bekam ich kein Feedback. Von daher schwinge ich jetzt meinen vollgepackten grünen Rucksack über die Schulter und marschiere ein letztes Mal hoch zur Kirche, überquere den Lopan und halte mich rechts. Nach ein paar hundert Metern lande ich an dem großen Kreisel, dort sollte meiner Annahme nach eine Straße Richtung Airport abgehen – und von dort gedenke ich, ein Taxi zu erwischen. Ich bin gut in der Zeit, der Verkehr hält sich in Grenzen und die Fahrzeit scheint überschaubar. An einer Bushaltestelle bleibe ich stehen. Aus allen Ecken und Enden biegen Fahrzeuge in den Kreisel, jede Menge Taxen, ich halte meinen Arm nach oben, noch niemand hält. So geht das eine ganze Weile. Mittlerweile steht ein Mann neben mir, die Mütze tief in die Stirn gezogen. Auf Englisch frage ich ihn, ob er weiß, wo ein Taxistand oder ähnliches ist, er kann kein Englisch – aber er weiß sofort, was ich meine, fragt nach meinem Ziel (Airport) und greift zum Handy. Ich frage ihn zudem, wie teuer eine Fahrt in etwa sein könnte. Er zeigt mir alle zehn Finger, ich deute dies als: 100. Das wäre prima. Er tippt ein weiteres Mal ins Handy, spricht mit jemandem und tippt dann 106 ein, der Fahrpreis. Dann fordert er mich auf, mitzukommen – ich folge ihm und bin gespannt, was passiert. Wir überqueren den Kreisel, spazieren auf die gegenüber liegende Seite und bleiben kurz darauf stehen. Er lugt auf die Straße und nach wenigen Minuten hält ein kleiner Wagen ohne Taxischild vor uns an. Er deutet mir an, einzusteigen, ich bin froh, bedanke mich und steige ein. Der Fahrer schaut mich an, fragt: Airport? Ich nicke, packe den Rucksack auf die Oberschenkel und dann geht es los.
Im Fond des Wagens sind etliche Geräte installiert, die auf ein professionelles Fuhrunternehmen verweisen, aus den Lautsprechern blubbert angenehme Technomusik in verträglicher Lautstärke und die Scheiben sind derartig verdreckt, dass man kaum hinaus sehen kann. Aber bei dem Schnee und Eis, bei Tauwetter und Matsch, könntest du das Auto wohl stündlich reinigen und es wäre sofort wieder dreckig. Der Fahrer fährt flott aber zivil, auch er hat die Mütze über die Stirn gezogen, schweigend sausen wir durch die Stadt, auf breiten Straßen durch große, eher gleichförmige, Wohnsiedlungen. Nach einer guten halben Stunde rollen wir auf den überschaubaren Airport zu, er hält nach einer Schrankendurchfahrt direkt vor dem Terminal und tippt in sein Handy: 106. Ich tippe zurück: 150. Wir sind beide zufrieden, ich steige aus – das wäre also auch geschafft.
Bevor ich ins Terminal spaziere, rauche ich noch eine Zigarette, dann geht’s rein. Und kaum bin ich drin, erkenne ich Grischa und Jens – ich werde nicht der einzige sein, der heute von Charkiw nach Kiew fliegen wird – später wird sich herausstellen, dass nahezu der gesamte Flieger in Frankfurter Hand ist. Die Jungs geben ihre Koffer auf und alsbald entdecken wir, dass ein ganzer Eintrachttross sich am Check in befindet, und es tatsächlich: Die Mannschaft. Also die Eintracht. Kevin Trapp macht ein Selfie mit einer jungen Dame, die sofort in freudige Ohnmacht fällt, Bruno und Fredi sind unrasiert wie ich, der ein wenig mit Leuten plaudert, die ich kenne, bis das Team eingecheckt hat. Anschließend hole ich mir am Tresen Frühstück. Tee, Schokocroissants, dies alles auch am Flughafen für kleines Geld, natürlich sind Leute vor mir am Schalter, die für eine Tasse Kaffee eine Ewigkeit brauchen und dazu in aller Seelenruhe beratschlagen, was noch dazu kommt. Es ist prima, wenn man alleine auf der Welt ist. Und dann entdecke ich Flo. Den habe ich seltsamerweise auf der ganzen Tour nicht gesehen, auch er ist mit Tommy im gleichen Flieger und so kommt dann doch alles zusammen. Passkontrolle und Sicherheitscheck gehen flott, Boarding ebenfalls und mit leichter Verspätung heben wir ab.
Zuvor stand ein Mann im schicken Anzug vor mir, den ich zu kennen glaubte. Wir gucken uns kurz an und ich überlege, woher wir uns kennen. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. WIR kennen uns nicht, aber ich ihn. Klar, welcher Fußballfan kennt ihn nicht, Andrij Schewtschenko, den wohl bekanntesten Fußballer der Ukraine, der mit uns im gleichen Flugzeug reist. Andrij fliegt allerdings Erster Klasse und ich verliere ihn aus den Augen. Der Flug ist kurz und weilig, mein Rucksack führe ich stets im Handgepäck und so stehe ich in kurzer Zeit wieder genau an dem Punkt, an dem ich auch am Montagabend schon stand. Routiniert laufe ich vor zum Bus 322, der wenig später startet und mich durch gewaltige Hochhaussiedlungen zur Südseite des Bahnhofs bringt. Diesmal liegt meine Unterkunft nicht in der City, sondern vielleicht einen Kilometer von hier entfernt – hinter dem Süden des Bahnhofs. Ein Taxifahrer bietet mir einen Lift an, aber dafür ist der Weg zu kurz. Ich vergleiche meine kopierte Karte mit einer Infotafel und bin mir sicher, wie ich laufen muss. Auf der anderen Straßenseite wartet ein KFC auf Kundschaft, ein paar Schritte eine weitere Kirche mit einer goldenen Kuppel. Von dort, wo ich soeben ausgestiegen bin, wird morgen auch mein Sky Bus zum Airport starten, das erscheint mir machbar. Nur verschlafen darf ich nicht. Ich laufe los.
Laufe bis zum Ende der breiten Straße, die nach rechts abknickt und sollte schon in der Straße sein, in der sich mein Hotel befindet – auch die Nummer sieben sollte sich finden lassen. Allerdings sind auch hier die Häuserreihen gewaltig, der Weg zieht sich ein wenig, immerhin passiere ich zwei kleine Hüttchen, die Kaffee und Tee anbieten, hier werde ich morgen auf dem finalen Weg zum Bahnhof vorbei schneien. Alsbald erreiche ich auch die Nummer sieben, es ist ein weiterer langgezogener Häuserkomplex mit vielen Stockwerken. Ich wandere entlang und kann keinen Hoteleingang entdecken und werde unsicher. Habe ich etwas verpasst? Ein Schriftzug an einem Eingang könnte entfernt etwas mit meinem Hotel zu tun haben, zur Sicherheit frage ich einen vorbei kommenden Passanten. Er kennt hier kein Hotel, zückt aber sofort sein Handy und fragt nach der Telefonnummer meiner Unterkunft. Natürlich auf ukrainisch oder russisch, ich verstehe ihn dennoch, krame meine Booking Kopie aus der Tasche, woraufhin er sofort im Hotel anruft. dann läuft er mit mir ein paar Schritte – und siehe da: Hier ist er, der Eingang. Ich bedanke mich herzlich, wir verabschieden uns und so trennen sich unsere Wege. Ich klingele.
Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme. Aber kein Summen. Ich klingele erneut. Wieder ertönt die Stimme. So geht es ein paar Mal, bis mir jemand die Tür von Hand öffnet und telefonierend zurück zur Rezeption läuft. Die Frau, Typ resolut, telefoniert stoisch noch eine ganze Weile, derweil ich mich umblicke. Das sieht doch alles recht modern aus. Dann checke ich ein, Erstmals muss ich meinen Pass in einem Hotel vorzeigen, gezahlt wird in bar. Anschließend zeigt sie mir einen Gemeinschaftsraum mit Teekocher, Kaffee und Tee sowie einer kleinen Bücherei. Alles sieht wirklich Hotelmäßig aus. Nur mein Zimmer nicht. In einem grün gestrichenen Raum steht ein schmales Bett, daneben ein Nachttischchen mit einer Lampe, die nicht an mein Bett reicht. Dazu steht auf einem alten Tisch ein Wasserkocher samt zweier Teebeutel und Zucker. Das Fenster zeigt auf eine Außenwand, ich befinde mich im Souterrain – quasi im Osten. Aber was soll’s, das Zimmer ist wirklich sauber, Handtücher liegen auf dem Bett und außer pennen mache ich hier eh nicht viel – und wie überall in der Ukraine funktioniert WiFi tadellos. Als ich im Begriff bin zu gehen, teste ich den Einlass, der über einen Chip funktioniert. Und prompt ertönt wieder die Stimme – wie ich jetzt erkenne natürlich vom Band und die Tür öffnet sich beim Drücken.
Nach einem Tee wandere ich wieder nach draußen, zurück zum Bahnhof. Keine 15 Minuten brauche ich und da die Shuttlebusse zum Flughafen alle 15 – 20 Minuten fahren, lässt sich der morgige Tag zeitlich hervorragend kalkulieren. Ich durchwandere den Bahnhof bis zum Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite. Hier bin ich vor zwei Tagen nach Charkiw aufgebrochen, es scheint mir Äonen her. Heute heißt mein erstes Ziel: Babyn Jar. Dieser Ort ist bzw. war ein Ort des Grauens. Im September 1941 haben die Nazis hier binnen einem einzigen Wochenende über 33.000 Juden zusammen getrieben und ermordet. Insgesamt ließen hier bis 1943 weit über 100.000 Menschen ihr Leben, die meisten Juden, aber auch Sinti und Roma und viele andere. Babyn Jar – noch heute ein mahnendes Sinnbild des Holocaust. Den Plan, diesen Ort zu besuchen, hegte ich von Beginn meiner Reise an.
Routiniert werfe ich einen meiner Chips in das Drehkreuz der Metro, die nach wenigen Minuten kommt. Die Uhren in den Stationen zählen nicht, wie lange es noch dauert, bis eine Bahn kommt, sie zählen, seit wann die letzte abgefahren ist. Das ist abgefahren. In der Tat, alle zwei, drei Minuten rauscht die Metro ein, spuckt Menschen aus, bevor wir uns nach innen schieben. Die Bahnen sind immer voll, aber nicht unangenehm. Ich fahre bis zur Station Teatralno, die auch unterirdisch – wie ich jetzt erfahre – mit dem Goldenen Tor verbunden ist. Gigantische Rolltreppen bringen dich nach kurzer Zeit an die weiterführenden Gleise, die Beschilderung ist auch für Laien erkennbar und schon sitze ich in der Bahn Richtung Dorohoschizka, zwei Stationen weiter. Menschen stehen dicht an dicht, die Fahrt dauert etliche Minuten bis zur nächsten Station. Eine weitere noch und ich steige aus. Bis hierher dürfte es wenig Touristen verschlagen, kleine Geschäfte verkaufen das Übliche, wie an vielen Metrostationen der Welt. Ich verlasse die Station und mein Blick fällt sofort auf den Park. Wäre ich auf der anderen Seite ausgestiegen, wäre ich an einem anderen Denkmal gelandet, so hatte es mir Max an meinem ersten Abend in Kiew erklärt.
Direkt am Eingang zeigt ein Wegweiser die verschiedenen Denkmäler und Wegführung an. Der Weg beginnt an der Allee der Märtyrer, vorbei am Denkmal für die ermordeten Kinder. Verschneite Wege führen mich dorthin, ich sehe die Birken der einstigen Schlucht, nur vereinzelt sind auf dem eisigem Gelände Menschen unterwegs. Ich verliere mich in Gedanken, fotografiere, und stelle mir vor, was nicht vorzustellen ist. Wie viele Menschen hier auf ihrem letzten Weg entlang gegangen sind, wie viele Träume hier endeten, wie viele Schüsse hier hallten, wie viel Blut hier floss. Weiter unten stoße ich auf die Allee der Gerechten unter den Völkern, gewidmet denjenigen, die selbstlos Juden vor dem sicheren Tod bewahrten. Hinweisschilder erklären die Geschichte, ein Junge steht neugierig davor und liest. Möge ihm ein freundliches Schicksal beschieden sein. Weiter hinten, am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma, einem Wagon, trinken Menschen Bier, vielleicht schützt er sie vor dem Wind. Geradeaus geht es zur Allee der Trauer. Dort steht auch die große Menora. Eine Mutter im roten Mantel umrundet sie mit einem Kinderwagen. Vorbei an alten Grabsteinen geht es wieder hinaus auf die Straße, eine Stunde war ich unterwegs, eine Stunde für die Ewigkeit.
Gedankenverloren steige ich wieder in die Metro, fahre zurück zum Goldenen Tor. Dort steige ich aus, wie ich am Montagabend erstmals hier ausgestiegen bin – als ein anderer. Jetzt liegen die Tage hinter mir, die mir am Montag noch eine Reise ins Ungewisse bedeuteten. Ich werde melancholisch, überlege, meine erste Unterkunft zu besuchen – aber das wäre zu viel des Guten. Vor dem Tor hat ein Mann mit langen Haaren im langen Mantel eine kleine Anlage aufgebaut. Klaviermusik ertönt, er erzählt fast singend mit rührenden Gesten eine Geschichte, es wird eine herzzerreißende Geschichte sein, eine romantische vielleicht. Ich lausche, es klingt wunderschön, das Mädchen neben mir applaudiert unvermittelt. Wenn ihr irgendwo einmal Edgar Vinnitsky musizieren hört, bleibt stehen, es ist toll.
Ich werfe ein paar Taler in seinen Rucksack – und bin nicht der erste. Er bedankt sich nickend und ich wandere runter zum großen Opernhaus. Gegenüber ist ein kleines Café, ich bestelle einen Earl Grey, der in losen Blätter in einer Bodumkanne serviert wird und schaue auf die beleuchtete Oper. Freddy ist mittlerweile auch gelandet – und gar nicht so weit von mir entfernt. Er hat eine Dali Ausstellung entdeckt und wir verabreden uns in einer halben Stunde an der Sophienkathedrale. Ich laufe los und urplötzlich fügt sich ein Bild zusammen. Bin ich die ersten Tage noch kreuz und quer gelaufen, verstehe ich mit einem Mal, wie die Wege hier zusammen hängen, erschließt sich mir ein Bild – und was auf der Karte zuvor noch vogelwild und kompliziert aussah, wirkt nun ganz einfach.
Ich treffe Freddy an der Straßenkreuzung zur Kathedrale und da wir beide Hunger haben, schlage ich vor, in jenes Restaurant am Fuße des Andreassteigs zu gehen, welches ich die Tage zuvor zwar gesehen aber nicht besucht hatte. Wir wandern vorbei am blauen St. Michaelskloster, die Pflastersteine hinunter, bis wir an der kleinen Galerie vorbei kommen, in der ich Pias Bild geholt hatte. Sie hat trotz Dunkelheit noch geöffnet und wir spazieren hinein. Diesmal steht eine andere junge Frau am Eingang, wir schlüpfen hinein und betrachten die leuchteten Schwarzlichtbilder, bekommen diesmal sogar eine 3D Brille, die Figuren heben sich plastisch ab – und ich erstehe auch für mich eines der bunten Bildchen. Weiter geht es nach unten. Bald sitzen wir unten in der Wirtschaft nah bei dem leuchtenden Riesenrad. Die Speisen liegen schon fertig zubereitet zur Auswahl, es herrscht ein buntes Treiben – hier isst jeder; die Studenten, die Jungen, die Alten – und wir. Unsere Teller sind voll, das Essen ist gut – sogar eine Grüne Soße gibt es, die in Frankfurt nicht aus der Reihe tanzen würde. Freddy schwärmt mir von der Dali-Ausstellung vor und da ich durchaus ein Freund der Kunst des extravaganten Malers bin, denke ich, dass ein Besuch ein würdiger Abschluss der Reise sein könnte. Mit der kleinen Bergbahn nahe der nächsten Metrostation schieben wir uns nach oben und laufen zurück zur Ausstellung. Sie liegt auf dem Weg von der Sophienkathedrale zum Maidan, einem der zentralen Wege. Der Bürgersteig aber weist metertiefe Krater auf, Bretter knicken in den Boden, Eisschnee tut sein Übriges. Manchmal wundere ich mich über die Diskrepanz zwischen den fantastisch renovierten Renommiergebäuden und den räudigen Wegen für die Allgemeinheit. Aber diese Widersprüche finden sich auch in den Einkünften der Oberen und den kargen Geldbeuteln des großen Restes.
Bunt beleuchtete Bilder weisen auf den Eingang zur Ausstellung, Elefantenskulpturen auf dünnen Beinen im Hof auf Salvatore Dali. 150 Griwna kostet der Eintritt, für uns ein Schnäppchen, für den hiesigen Durchschnitt jedoch unerschwinglich, aber immerhin: Freddy darf mit seiner Karte auch noch mal hinein. Die Ausstellung ist quasi zweigeteilt. In einem Raum hängen um die 50 Zeichnungen, unterteilt in die Kategorien Hölle, Gegenwart und Erlösung, im weitaus größeren Raum werden zu wechselnder Musik im Loop über drei Wände Bilder projiziert, Bilder von Dali, von Bosch, von stillen Nebelgewässern, ein surrealer Trip, dem man stundenlang zusehen könnte. Ein Trip, der gewissermaßen auch die Reise symbolisiert, die sich nun dem Ende entgegen neigt. Das Unterbewusstsein lässt Bilder fließen und sie vemengen sich mit den Bildern der Reise, der Ankunft in Kiew, der Abend in der Bar, der Tag im Regen, die Dnjeprbrücke, die mächtigen Kathedralen und breiten Straßen, der fallende Schnee, die Eiswege, die Angst, Züge und Flüge zu verpassen, der frühmorgendliche Weg zum Bahnhof, die Zugfahrt durch die Ukraine, die Markthalle in Charkiw, die Discolichter in der Nacht, die Häuserschluchten beim Fanmarsch, das Flutlicht im Stadion, der Heimweg im Dunklen, die Menschen, Gesichter, Gespräche – alles mengt sich – und findet seinen Kulminationspunkt in jenen Bildern, die vor uns ablaufen und in uns erzeugt werden.
Dann ist es Zeit, zu gehen. Wir nehmen noch einmal die Metro, rollen noch einmal die riesige Rolltreppe hinunter und sausen alsbald zum Bahnhof. Dort trennen sich unsere Wege, Freddy geht ein paar Meter im Süden des Bahnhofs nach oben, ich muss links runter. Danke, hat Spaß gemacht mit dir, wir haben einiges erlebt.
Auf dem Heimweg bin ich kurz unkonzentriert und biege falsch ab, wo es eigentlich nichts abzubiegen gibt. Nach 10 Minuten bemerke ich meinen Irrtum, wandere wieder zurück und lande wohlbehalten im Hotel. Ein letztes Mal lege ich meine Sachen zurecht, alle Ausdrucke sind nunmehr Geschichte, das Bahnticket und auch die Eintrittskarte vom Spiel brauche ich nicht mehr. Wie wertvoll erschienen sie mir vor einigen Tagen und nun ist alles vorbei, scheinbare Vergangenheit – doch die Tickets waren mehr als Eintrittskarten für Fahrt und Spiel, sie waren Eintrittskarten für Erlebnisse jener besonderen Art, die ein Leben lang Teil meiner Persönlichkeit bleiben werden.
Ich verstaue meine Habseligkeiten im Rucksack, stelle ein letztes Mal die Wecker und freue mich sehr, Pia bald wiederzusehen. Dann schlafe ich ein. Die letzte Nacht in der Ukraine ist hereingebrochen.
Am nächsten Morgen erwache ich vor der Zeit, packe den Rest der Nacht zusammen, trinke noch einen Tee – und denke, dass nun auch alles glatt gehen wird. Der Weg zum Bahnhof ist überschaubar, die Abfahrtsstelle des Busses ist bekannt, die Zeit stimmt auch. Aber noch heißt es, konzentriert bleiben – auch am Flughafen sollte ich weder Pass, noch Handy, noch Geldbeutel verbaseln – und genau so ein Mist passiert, wenn du vor Abpfiff schon den Sieg feierst. Und so marschiere ich los, mit meinem langen schwarzen Mantel und dem grünen Rucksack und schweren Schuhen, die mir all die Tage so gute Dienste geleistet haben. Nach ein paar Schritten hole ich mir noch einen Tee an einem der Kioske, wo schon einige Soldaten auf den Tag warten. Der Skybus steht bereit, Michaela und Roland, die mit mir in Charkiw vom Stadion zurück gelaufen sind, sitzen sogar auch schon darin. Keine zehn Minuten später rollen wir los, fahren durch das morgendliche Kiew, halten kurz an der Metrostation Kharkivska, an der ich Montags noch ausgestiegen bin und erreichen nach einer guten Stunde den Flughafen. Auch hier dauert die Passkontrolle und der Secutitycheck nicht all zu lange. Im Duty Free hole ich für die letzten Gwirna noch eine Stange Zigaretten – und schon beginnt das Boarding. Nur wenige Meter fahren wir anschließend mit dem Shuttlebus, das übliche Prozedere beim Einstieg und dann traue ich meinen Augen nicht. Den einzigen, mit dem ich lose verabredet war und auf der gesamten Reise nicht gesehen habe, ist Gerd. Wir waren unter anderem zusammen in Bordeaux. Und jetzt sitzt er im Flieger – auf dem Platz neben mir. Manche mögen es Zufall nennen, ich nicht. Und so heben wir mit kurzer Verzögerung ab, schweben über Polen und Tschechien nach Deutschland und landen mehr als pünktlich in Frankfurt am Main. Der Weg zieht sich dann noch ein wenig, aber wie immer, landen wir auch diesmal wieder am Terminal. An der Passkontrolle drängeln einige Jungs mit verschrammten Gesichtern vor, dann sind wir durch, biegen um die Ecke und schon sehe ich Pia. Wir fallen uns in die Arme – und ich bin wieder zuhause. Mit einem Rucksack voller Geschichten und Erlebnisse und vielleicht gar der einen oder anderen Erkenntnis.
Danke euch für’s Mitkommen und bis bald. Eintracht Frankfurt international.
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